Anm. zu BAG: Krankengeld auch bei verspäteter Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung

SGB V Gesetzliche Krankenversicherung

Das BSG hat mit Urteil vom 21.9.2023 (B 3 KR 11/22 R) entschieden, dass ein Arbeitnehmer trotz zwei Tage zu spät erfolgter Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung weiterhin Anspruch auf Krankengeld von seiner Krankenkasse hat, wenn er diese Verspätung nicht selbst verschuldet hat (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Die 1966 geborene, bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin bezog fortlaufend und über das Ende ihres Beschäftigungsverhältnisses zum 30. April 2018 hinaus Krankengeld wegen Arbeitsunfähigkeit, zuletzt ärztlich festgestellt bis voraussichtlich Sonntag, den 17. Juni 2018. Zu einer Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch - wie schon zuvor - ihren Hausarzt am 18. Juni 2018 kam es nicht. Die Klägerin suchte ohne vorherige Terminvereinbarung an diesem Tag die Arztpraxis auf und erhielt wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin erst für den 20. Juni 2018, an dem die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wurde. Die Zahlung von weiterem Krankengeld ab dem 18. Juni 2018 lehnte die Beklagte ab, weil die Fortdauer der Arbeitsunfähigkeit nicht am 18. Juni 2018, sondern erst am 20. Juni 2018 ärztlich festgestellt wurde und diese Feststellungslücke die Mitgliedschaft aus dem Beschäftigungsverhältnis der Klägerin mit Anspruch auf Krankengeld nicht aufrechterhalten habe.

Die Klägerin erhob Klage beim Sozialgericht Augsburg und bekam recht. Das Sozialgericht verurteilte die Beklagte unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide, der Klägerin im streitigen Zeitraum Krankengeld zu gewähren Darüber hinaus stellte es fest, dass die Mitgliedschaft der Klägerin bei der Beklagten fortbestehe (Urteil SG Augsburg v. 19.12.2018, S 2 KR 346/18). Das LSG Bayern wies die dagegen eingelegte Berufung der Beklagten zurück, lies jedoch die Revision zu (LSG Bayern v. 15.3.2022,  L 5 KR 40/19). Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 46 Satz 1 Nr. 2 und § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Das Risiko, nicht umgehend einen Termin zu erhalten, liege allein im Bereich der Klägerin und nicht im Verantwortungsbereich des Arztes.

Entscheidungsgründe:

Das BSG wies die Revision zurück und bestätigte mit seinem Urteil die Vorinstanzen.

Grundsätzlich habe zwar der Versicherte im Sinne einer Obliegenheit dafür Sorge zu tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung erfolge. Insoweit sind in der Rechtsprechung des BSG aber enge Ausnahmen anerkannt worden, bei deren Vorliegen der Versicherte so zu behandeln sei, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit erhalten. Einem „rechtzeitig“ erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit steht es danach gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden beziehungsweise -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten, und es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen ist.

Das BSG erweiterte seine Ausnahmefall-Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall und sah es als ausreichend an, dass die Klägerin am letzten Tag die Arztpraxis ohne Terminvereinbarung aufsuchte. Das BSG begründete seine Entscheidung insbesondere mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angesichts der Schwere des Nachteils, der im dauerhaften Verlust des Krankengeldanspruchs durch die Beendigung der Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V liege. Die Anforderungen an das ernsthafte rechtszeitige Bemühen der Feststellung der Fortschreibung der Arbeitsunfähigkeit seien aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zu überspannen.

Im Übrigen wies das BSG darauf hin, dass die dahinterstehende (naheliegende) Fehlvorstellung der Versicherten und Ärzte, dass rückwirkende Arbeitsunfähigkeits-Feststellungen für Versicherte nicht leistungsschädlich seien, Krankenkassen mitzuverantworten hätten, weil sie als maßgebliche Mitakteure im gemeinsamen Bundesausschuss an dessen Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie beteiligt seien, die eine begrenzte rückwirkende ärztliche Arbeitsunfähigkeits-Feststellung zulasse.

Hinweise für die Praxis:

Das BSG urteilte zu Gunsten des Versicherten und erweiterte damit seine Ausnahmefälle zum strikten § 46 Satz 1 Nr. 2 und § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V. Gerecht oder ungerecht? Der Fall unterliegt der Betrachtung der Risiko- und Verwaltungsbereiche von Versichertem, Arzt und Krankenkasse. Was noch vor Jahren undenkbar war, wird angesichts des immerzu wachsenden Ärztemangels Realität. Der Versicherte bekommt nicht rechtzeitig einen Termin beim Arzt, er wird trotz Aufsuchens der Arztpraxis weggeschickt. Angesichts der Schwere der Konsequenzen für den Versicherten, nämlich dem Verlust des Krankengeldanspruchs ist das Urteil durchaus als gerecht anzusehen, jedenfalls dann, wenn wie im vorliegenden Fall der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan und rechtzeitig versucht hat, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit zu erhalten. Dabei wurde das Aufsuchen des Arztes, auch wenn dies am letzten Tag ohne Termin erfolgt ist, als ausreichend angesehen.

Autorin: Annette Rölz, Rechtsanwältin Annette Rölz, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Frankfurt

Quelle: BSG, Urteil v. 21.9.2023 (B 3 KR 11/22 R)