Anm. zu EuGH: Urlaubsabgeltung bei Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand

Bundesurlaubsgesetz

Der EuGH hat mit Urteil vom 18.1.2024 (C-218/22) entschieden, dass Art. 7 Arbeitszeit-RL (RL 2003/88/EG) und Art. 31 II GRCh einer nationalen Regelung entgegenstehen, die eine Abgeltung von Urlaub verbieten, der sowohl im letzten Jahr der Beschäftigung als auch in den Vorjahren erworben wurde und zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommen ist, wenn der Arbeitnehmer das Arbeitsverhältnis auf eigenen Wunsch beendet und nicht nachgewiesen hat, dass er den Urlaub aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht während des Arbeitsverhältnisses genommen hat (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Wirtschaftskanzlei ADVANT Beiten).

Sachverhalt:

Im Ausgangsrechtsstreit klagt ein ehemaliger im öffentlichen Dienst der Gemeinde Copertino (Italien) beschäftigter Arbeitnehmer gegen die Gemeinde auf Urlaubsabgeltung für zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub. Art. 5 der Decretolegge Nr. 95 sieht für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes vor, dass Urlaub, Ruhetage und Freistellungsansprüche nach den jeweiligen Vorschriften in Anspruch genommen werden müssen und in keinem Fall zu einer Auszahlung finanzieller Ersatzleistungen führen. Dies gelte auch bei der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auf Grund von Arbeitsplatzwechsel, Kündigung, Auflösung, Eintritt in den Ruhestand und Erreichen der Altershöchstgrenze. Ein Verstoß gegen diese Vorschrift führt nicht nur zur Rückforderung der rechtsgrundlos gezahlten Beträge, sondern auch zur disziplinarrechtlichen und verwaltungsrechtlichen Haftung des verantwortlichen Leiters. Der Kläger des Ausgangsverfahrens schied zum 1.10.2016 auf eigenen Wunsch aus, um in den vorzeitigen Ruhestand zu gehen. Nach seiner Auffassung hat er Anspruch auf finanzielle Abgeltung für im Zeitraum 2013 bis 2016 erworbene Urlaubsansprüche von 79 Tagen. Das vorlegende Gericht weist auf ein Urteil des italienischen Verfassungsgerichtshofs hin, wonach die in Rede stehende Norm mit italienischem Verfassungsrecht und Unionsrecht vereinbar sei. Das Gesetz verfolge das Ziel, öffentliche Ausgaben einzudämmen und die organisatorischen Zwänge für öffentliche Arbeitgeber zu berücksichtigen. Darüber hinaus wolle es sicherstellen, dass Urlaub tatsächlich in Anspruch genommen werde. Das vorlegende Gericht hat Zweifel und legt die Fragen des Unionsrechts dem EuGH vor.

Entscheidungsgründe:

Der EuGH bekräftigt seine Einschätzung, dass Art. 7 Arbeitszeit-RL das in Art. 31 II GRCh verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub konkretisiere und den Anspruch auf Bezahlung sowie auf finanzielle Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub umfasse. Aus dem Umstand, dass ein Arbeitnehmer sein Arbeitsverhältnis von sich aus beendet habe, beeinflusst den Anspruch auf Abgeltung nicht.

Die Richtlinie untersage zwar keine nationale Bestimmung, nach der nicht genommener Jahresurlaub verfalle, sofern der Arbeitnehmer die Möglichkeit hatte, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch wahrzunehmen. Dies setze – so der EuGH – indes voraus, dass der Arbeitnehmer seinen Jahresurlaub aus freien Stücken und in Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht genommen hat, nachdem er in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen. Wenn der Arbeitgeber – wie vorliegend - nicht nachweisen kann, den Arbeitnehmer in die Lage versetzt zu haben, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, bleibt der Abgeltungsanspruch erhalten.

Hinweise für die Praxis:

Die jüngste Entscheidung überrascht unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zum Urlaubsanspruch und zu seiner Abgeltung nicht. Das Recht auf bezahlten Jahresurlaub ist nach dem EuGH als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union anzusehen. Dementsprechend erachtet er den von der italienischen Rechtsvorschrift vorgesehene Verfall von Urlaub bei Eintritt in den Vorruhestand als nicht mit Unionsrecht vereinbar an. Ein Verfall kann nach dem Maßstab des EuGH allein unter der von ihm definierten Voraussetzung für ein Urlaubsverfall eintreten. Der Wunsch des Arbeitnehmers nach Eintritt in den vorzeitigen Ruhestand reicht hierfür indes nicht.

Autor: Rechtsanwalt Dr. Andreas Imping, ADVANT Beiten, Düsseldorf

Quelle: Pressemitteilung des EuGH Nr. 10/24 v. 18.1.2024