Anm. zu LAG Mecklenburg-Vorpommern: Zum Beweiswert des „Gelben Scheins“ im gekündigten Arbeitsverhältnis

Entgeltfortzahlungsgesetz

Anm. zu LAG Mecklenburg-Vorpommern: Zum Beweiswert des „Gelben Scheins“ im gekündigten Arbeitsverhältnis

Das LAG Mecklenburg-Vorpommern hat mit Urteil vom 7.5.2024 (5 Sa 98/23) entschieden, dass wenn eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung passgenau die verbleibende Dauer eines gekündigten Arbeitsverhältnisses abdeckt, ihr Beweiswert erschüttert ist. Der Nachweis einer Erkrankung muss dann vom Arbeitnehmer anderweitig geführt werden (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).

Sachverhalt:

Der Kläger ist seit 2020 für einen Wursthersteller tätig. Seit 2021 wird er als stellvertretender Abteilungsleiter in der Pökelei eingesetzt und leistet dort Schichtdienst. Von Oktober bis Dezember 2022 erkrankt der Kläger mehrfach und legt hierzu Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor. Am Freitag, 9.12.2022, dem letzten Tag seiner Krankschreibung, kündigt er sein Arbeitsverhältnis ordentlich zum 15.1.2023. Das Schreiben übergibt er am darauffolgenden Montag persönlich im Betrieb. Ab Dienstag, 13.12.2022, bleibt der Kläger erneut daheim. Sein Hausarzt schreibt ihn ab diesem Tag bis zum 6.1.2023 krank. Auch verschreibt er ihm Antidepressiva und überweist ihn an einen Psychiater. Weder nimmt der Kläger die ihm verschriebenen Medikamente ein, noch sucht er den Facharzt auf. Sein Hausarzt stellt am 2.1.2023 eine Folgebescheinigung bis zum 16.1.2023 aus – dem Tag nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Zeitgleich tritt der Kläger eine neue Beschäftigung im Lebensmitteleinzelhandel an. Über die Entgeltfortzahlung ab 13.12.2022 geraten die Parteien in Streit. Während die Beklagte hierzu nicht bereit ist und die Arbeitsunfähigkeit des Klägers bezweifelt, verlangt der Kläger Zahlung. Die Arbeit bei der Beklagten, argumentiert er, sei körperlich schwer und im Schichtdienst zu leisten gewesen. Er habe aus diesem Grund viel Gewicht verloren sowie an Schlafstörungen, Magenbeschwerden, Schwindel und Atembeschwerden gelitten.

Entscheidungsgründe:

Nachdem die Beklagte in erster Instanz unterlag, gab das LAG Mecklenburg-Vorpommern ihr Recht. Dem Kläger, so die 5. Kammer, stehe kein Anspruch gem. § 3 Abs. 1 Satz 1, § 4 Abs. 1 EFZG auf Fortzahlung des Entgelts über den 12.12.2022 hinaus zu. Der Beweiswert der von ihm vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen sei durch die Passgenauigkeit des bescheinigten Zeitraums zur verbleibenden Dauer des Arbeitsverhältnisses erschüttert. Der pauschale Vortrag des Klägers zu seiner Krankheit sei für den Nachweis einer vorliegenden Erkrankung nicht ausreichend gewesen.
Zu den ärztlichen Diagnosen habe der Erkrankte weder konkrete gesundheitliche Einschränkungen vorgetragen noch deren Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bezogen auf die geschuldete Tätigkeit – auch nicht zumindest laienhaft – dargestellt. Die vom behandelnden Arzt verordneten Medikamente und die Überweisung an einen Psychiater seien zwar ein Indiz dafür, dass die Erkrankung ärztlich als schwerwiegend eingeschätzt worden war. Dass der Kläger aber seine Medikamente ohne Rücksprache mit dem Arzt nicht eingenommen und unabhängig davon auch nicht einen - ggf. längerfristigen - Termin bei einem Facharzt vereinbart habe, sei Anlass weiterer Zweifel gewesen, die der Kläger letztendlich nicht habe ausräumen können.

Hinweis für die Praxis:

Wird ein Arbeitnehmer durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an seiner Arbeitsleistung verhindert, ohne dass ihn ein Verschulden trifft, so hat er Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall durch den Arbeitgeber für die Zeit seiner Arbeitsunfähigkeit bis zur Dauer von sechs Wochen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG). Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen. Der Beweis ist durch Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu führen. Diese begründet keine gesetzliche Vermutung einer tatsächlich bestehenden Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 292 ZPO mit der Folge, dass nur der Beweis des Gegenteils zulässig wäre.

Der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist nach der hier vorliegenden Entscheidung regelmäßig erschüttert, wenn ein Arbeitnehmer unmittelbar nach einer Eigen- oder Arbeitgeberkündigung Bescheinigungen einreicht, die passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecken. Folge der Erschütterung ist, dass der Arbeitnehmer nun anderweitig darlegen und beweisen muss, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben und welche Verhaltensmaßregeln oder Medikamente ärztlich verordnet worden sind.

Der vorliegende Fall reiht sich in eine Folge instanzgerichtlicher und höchstrichterlicher Urteile zu ähnlichen Fällen ein, die Erleichterungen für Arbeitgeber mit sich bringen. Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt danach zwar ein hoher Beweiswert zu. Dass dieser jedoch nicht uferlos ist, beugt Missbrauchsfällen vor.

Autorin: Dr. Sabine Schröter, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Frankfurt am Main

Quelle: LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil v. 7.5.2024 (5 Sa 98/23)