Anm. zu LAG Niedersachen: Außerordentliche Kündigung eines Arbeitnehmers wegen vorgetäuschter Arbeitsunfähigkeit
Entgeltfortzahlungsgesetz
Das LAG Niedersachsen hat in seinem Urteil vom 8.7.2024 (15 SLa 127/24) entschieden, dass ein Arbeitnehmer der ihn treffenden sog. sekundären Darlegungslast für das Bestehen einer Krankheit nicht durch die Vorlage einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachkommt, wenn deren – grundsätzlich hoher – Beweiswert erschüttert ist (Entscheidungszusammenfassung mit Praxishinweisen der Kanzlei Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB).
Sachverhalt:
Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung der Beklagten. Die Klägerin war seit dem 1.12.2007 bei der Beklagten als Sekretärin beschäftigt. Der Klägerin wurde in einem Personalgespräch am 7.9.2022 mitgeteilt, dass zu Beginn der niedersächsischen Sommerferien am 6.7.2023 und an den folgenden Tagen Urlaub nicht gewährt werden könne. Dennoch bestand die Klägerin in der Folgezeit darauf, am 6.7.2023 von der Beklagten Urlaub gewährt zu bekommen. Dies wurde von der Beklagten abgelehnt. Daraufhin teilte die Klägerin der Beklagten am 5.7.2023 telefonisch mit, dass es ihr nicht gut gehe und sie eine Magen-Darm-Grippe erwischt habe. Für die Zeit vom 5.7.2023 bis zum 7.7.2023 legte die Klägerin sodann eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vor, nach der die Arbeitsunfähigkeit am 5.7.2023 festgestellt worden ist. Es stellte sich heraus, dass die Klägerin am 6.7.2023 an einem Trainer-Lizenz-Lehrgang teilgenommen hat. Mit Schreiben vom 7.7.2023 hörte die Beklagte die Klägerin wegen des Verdachts der vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit an. Mit Schreiben vom 10.7.2023 teilte die Klägerin mit, sie habe von Dienstag auf Mittwoch (5.7.2023) starke Bauschmerzen und Übelkeit gehabt, das Schlucken habe wehgetan und sie habe Kopfschmerzen gehabt. Am Mittwoch habe sie daraufhin einen Arzt aufgesucht, der sie für drei Tage krankgeschrieben habe. Nachdem sie Medikamente, die ihr ärztlich verschrieben wurden, eingenommen hatte, sei umgehend Besserung eingetreten. Sie gehe davon aus, dass die Symptome teilweise psychosomatisch waren. Am 6.7.2023 habe sie sich OK gefühlt und entschlossen, an dem Lehrgang teilzunehmen. Mit Schreiben vom 13.7.2023 informierte die Beklagte den Personalrat über die beabsichtigte außerordentliche Kündigung und bat um Herstellung des Begehrens. Mit Schreiben vom 17.7.2023 teilte der Personalrat mit, das Benehmen zur außerordentlichen Kündigung werde nicht erteilt. Mit Schreiben vom 18.7.2023 teilte die Beklagte dem Personalrat mit, dass die Kündigung erklärt werden wird. Daraufhin kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 18.7.2023 sowohl als Tat- sowie vorsorglich als Verdachtskündigung außerordentlich fristlos. Mit Schreiben vom 25.7.2023 hat die Klägerin Kündigungsschutzklage erhoben. Mit Urteil vom 31.1.2024 hat das erstinstanzlich zuständige Arbeitsgericht die Klage abgewiesen.
Entscheidungsgründe:
Das LAG Niedersachsen hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Nach der Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts endete das Arbeitsverhältnis der Parteien mit Zugang der außerordentlichen Kündigung am 18.7.2023; die Kündigung ist rechtswirksam.
Ein wichtiger Grund i.S.d. § 626 Abs. 1 BGB sei vorliegend gegeben. Es liegen Tatsachen vor, auf Grund derer der Beklagten unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses nicht zugemutet werden könne. Anknüpfungspunkt für das Vorliegen eines wichtigen Grundes sei die vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit der Klägerin in der Zeit vom 5.7.2023 bis zum 7.7.2023. Das Berufungsgericht ist in seiner Entscheidung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Klägerin in diesem Zeitraum nicht arbeitsunfähig erkrankt gewesen sei. Der dahingehende Vortrag der primär darlegungs- und beweisbelasteten Beklagten gelte als zugestanden, weil die Klägerin der sie treffenden sekundären Darlegungslast nicht im ausreichendem Maße nachgekommen ist. Dies ergebe sich aus den Grundsätzen der sog. abgestuften Darlegungslast, die eingreifen, wenn der Arbeitgeber Vortrag zu einer negativen Tatsache halten muss. Zwar sei in Bezug auf die Darlegungs- und Beweislast im Grundsatz davon auszugehen, dass stets dem Arbeitgeber der Vollbeweis für das Vorliegen eines die Kündigung rechtfertigenden Grundes obliegt. Von einem Arbeitgeber könne aber nicht verlangt werden nachzuweisen, dass irgendeine Erkrankung im Zeitpunkt der erfolgten Ankündigung einer künftigen Krankmeldung überhaupt nicht vorgelegen haben kann. Es sei deshalb im Rahmen einer sekundären Behauptungslast Sache des Arbeitnehmers vorzutragen, welche konkreten Krankheiten bzw. Krankheitssymptome zum Zeitpunkt der Ankündigung der Krankschreibung vorgelegt haben und weshalb der Arbeitnehmer darauf schließen durfte, auch noch am Tag der begehrten Freistellung arbeitsunfähig zu sein. Erst wenn der Arbeitnehmer insoweit einer Substantiierungspflicht nachgekommen sei und gegebenenfalls seine ihn behandelnden Ärzte von der Schweigepflicht entbunden habe, muss der Arbeitgeber auf Grund der ihm obliegenden Beweislast den konkreten Sachvortrag des Arbeitnehmers entkräften.
Die Klägerin konnte der sekundären Darlegungslast nicht bereits durch die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachkommen, da der Beweiswert dieser Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nach Überzeugung des Berufungsgerichts erschüttert sei. Einer ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung komme auf Grund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz dem Grunde nach ein hoher Beweiswert zu. Der Arbeitgeber könne den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nur dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall auch beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers geben, mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung dann kein Beweiswert mehr zukommt. Den Beweiswert erschütternde Tatsachen können sich aus dem eigenen Sachvortrag des Arbeitnehmers oder aus der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung selbst ergeben. Zweifel an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ergäben sich zunächst daraus, dass diese für einen Zeitraum ausgestellt worden ist, für den die Klägerin unstreitig zuvor Urlaub begehrt hat. Das Zusammenfallen der Arbeitsunfähigkeit mit diesem Zeitraum könne zwar durchaus ein Zufall sein, begründet aber gleichwohl erste Zweifel an der Richtigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Diese Zweifel würden verstärkt durch die Tatsache, dass die Klägerin am 6.7.2023, wie von ihr beabsichtigt, an dem Lehrgang teilgenommen hat. Zwar verkenne die Kammer nicht, dass die Teilnahme an dem Lehrgang nicht notwendigerweise bedeutet, dass die Klägerin nicht arbeitsunfähig gewesen ist. Es sei denkbar, dass krankheitsbedingte Ursachen zur Arbeitsunfähigkeit geführt haben, die die Klägerin nicht gehindert haben, an dem Lehrgang teilzunehmen. Bereits hierzu habe sich die Klägerin aber nicht hinreichend erklärt. Sie habe zu der genauen Ursache ihrer Arbeitsunfähigkeit keine Angaben gemacht. Der Vortrag der Klägerin sei aus Sicht des Berufungsgerichts nicht ausreichend. Hinzu komme, dass davon ausgegangen werden muss, dass die Klägerin von Anfang an beabsichtigte, trotz ihrer bestehenden Arbeitsverpflichtung an dem Lehrgang am 6.7.2023 teilzunehmen. Im Übrigen habe die Klägerin über die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hinaus keinen ausreichenden Vortrag geleistet, um ihrer sekundären Darlegungslast nachzukommen.
Die vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit rechtfertige auch nach der gebotenen umfassenden Interessenabwägung die außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Einer vorherigen Abmahnung der Klägerin habe es nicht bedurft. In dem Vortäuschen einer Arbeitsunfähigkeit sei eine schwerwiegende Pflichtverletzung zu sehen. Lasse sich der Arbeitnehmer für die Zeit einer vorgetäuschten Arbeitsunfähigkeit Entgeltfortzahlung gewähren, begeht er damit regelmäßig einen Betrug zulasten des Arbeitgebers. Auch mit der nur einmaligen Hinnahme eines so erheblichen Pflichtverstoßes habe die Klägerin nicht rechnen können.
Hinweis für die Praxis:
Die Entscheidung des LAG Niedersachsen belegt erneut, dass Arbeitgeber den hohen Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern können. Die Erschütterung gestaltet sich in der Praxis dennoch meist schwierig. In Verdachtsfällen sollten Arbeitgeber darauf achten, dass die tatsächlichen Umstände dargelegt und bewiesen werden können, um belastbare Zweifel an der angeblichen Erkrankung des Arbeitnehmers zu liefern. Die Entscheidung verdeutlicht zudem, dass eine vorgetäuschte Arbeitsunfähigkeit erhebliche Auswirkungen auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses haben kann. Arbeitgeber sind in derartigen Fällen auch ohne Ausspruch einer vorherigen Abmahnung grundsätzlich dazu berechtigt, das Arbeitsverhältnis im Wege einer außerordentlichen Kündigung zu beenden.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Felix Häringer, Friedrich Graf von Westphalen & Partner mbB, Freiburg
Quelle: LAG Niedersachsen v 8.7.2024 (15 SLa 127/24)