BFH: Fehlendes Rechtsschutzbedürfnis bei vorläufiger Steuerfestsetzung - Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags
Abgabenordnung / Solidaritätszuschlag
BFH, Urteil vom 26.09.2023, IX R 16/22
Verfahrensgang: FG München, 2 K 330/22 vom 12.10.2022
Leitsatz:
NV: Für eine Klage gegen den Bescheid über Solidaritätszuschlag für 2020, mit der die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlags geltend gemacht wird, fehlt es am Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Steuerfestsetzung wegen dieses Punktes vorläufig ist und beim Bundesverfassungsgericht bereits ein einschlägiges Musterverfahren (hier: 2 BvR 1505/20) anhängig ist.
Gründe:
I. Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ein Rechtsschutzbedürfnis für ihre Klage gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags nach dem Solidaritätszuschlaggesetz 1995 hat und ob das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 in der durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 vom 10.12.2019 geänderten Fassung (BGBl I 2019, 2115) ab dem Jahr 2020 gegen Verfassungsrecht verstößt.
Die Klägerin wird im Streitjahr 2020 einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) setzte mit Bescheid vom 06.09.2021 Solidaritätszuschlag zur Einkommensteuer 2020 in Höhe von … € fest. Der Bescheid erging gemäß § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) vorläufig hinsichtlich des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995.
Den gegen den Bescheid vom 06.09.2021 erhobenen Einspruch begründete die Klägerin damit, dass die Erhebung des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020 verfassungswidrig sei. Dies ergebe sich aus dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 21.07.2011 - II R 50/09, wonach das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 als zeitlich befristete Ergänzungsabgabe mit dem Auslaufen des Solidaritätspakts II, also mit Ablauf des Jahres 2019, seine Legitimation verliere. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 sei auch insoweit verfassungswidrig, als höhere Einkommen ab 2021 weiter mit dem Solidaritätszuschlag belastet würden. Die durch das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 beschränkte Erhebung des Solidaritätszuschlags auf die 10 % der Steuerbürger mit dem höchsten Einkommen sei willkürlich und damit eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 verstoße gegen Art. 106 des Grundgesetzes (GG) sowie die Art. 2, Art. 3 und Art. 14 GG und sei deshalb insgesamt verfassungswidrig. Der Bescheid vom 06.09.2021 sei aufzuheben und der Solidaritätszuschlag ab 2021 auf 0 € festzusetzen.
Das FA verwarf mit Einspruchsentscheidung vom 18.01.2022 den Einspruch als unzulässig. Dem Einspruch fehle mit Blick auf den Vorläufigkeitsvermerk das Rechtsschutzbedürfnis, da im Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom 04.01.2021 (BStBl I 2021, 49) klargestellt sei, dass der Vorläufigkeitsvermerk ab dem Jahr 2020 auch die Frage umfasse, ob die fortgeltende Erhebung des Solidaritätszuschlags nach dem Auslaufen des Solidarpakts II zum 31.12.2019 verfassungsgemäß sei.
Die hiergegen am 21.02.2022 erhobene Klage begründete die Klägerin damit, dass der Vorläufigkeitsvermerk im Bescheid vom 06.09.2021 mit demselben Wortlaut seit dem Jahr 2013 existiere und ursprünglich auf das beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhängig gewordene Verfahren Aktenzeichen 2 BvL 6/14 betreffend den Solidaritätszuschlag 2007 zurückzuführen sei. Der Vorläufigkeitsvermerk habe sich daher nicht auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit nach dem Auslaufen des Solidarpakts II erstreckt. Das FA könne sich auch nicht auf das BMF-Schreiben vom 04.01.2021 (BStBl I 2021, 49) berufen, da dieses nicht in den angefochtenen Bescheid eingeflossen sei und allenfalls die weisungsgebundenen Finanzbehörden binde. Im Streitfall lägen zudem substantiiert vorgetragene besondere Gründe materiell-rechtlicher und verfahrensrechtlicher Art vor, die die Durchführung eines Rechtsbehelfsverfahrens rechtfertigten. Das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage sei auch deshalb gegeben, weil der Rechtsweg weder verwehrt noch verkürzt werden dürfe (Art. 19 Abs. 4 GG). Der Klage stünden weder das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 noch das beim BFH anhängige Verfahren IX R 15/20 entgegen, da anderen Steuerpflichtigen dadurch nicht der Zugang zu den Fachgerichten verwehrt werden dürfe, zumal das BVerfG noch nicht über den Normenkontrollantrag mit dem Aktenzeichen 2 BvL 6/14 entschieden habe. Das im Streitfall bestehende Rechtsschutzbedürfnis ergebe sich auch aus dem Urteil des Finanzgerichts (FG) Baden-Württemberg vom 16.05.2022 - 10 K 1693/21 (Entscheidungen der Finanzgerichte –EFG– 2022, 1397). Dort sei darauf hingewiesen worden, dass das BVerfG bisher keine Grenze für das Vorliegen einer verfassungswidrigen Aushöhlung der nach Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG vorgesehenen Verteilung der Steuer festgelegt habe. Materiell-rechtlich stützte sich die Klägerin im Klageverfahren auf die bereits im Einspruchsverfahren geltend gemachten Gründe. Die Begründung des FG Baden-Württemberg, das die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 auch ab 2020 bejaht habe, sei unzutreffend. Insbesondere ändere ein weiterer finanzieller Mehrbedarf des Bundes und der Länder wegen des Ukrainekriegs und der Corona-Pandemie nichts daran, dass sich mit Auslaufen des Solidarpakts II die Verhältnisse grundlegend im Sinne des BFH-Urteils vom 21.07.2011 - II R 50/09 geändert hätten. Eine Umwidmung des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 könne ab dem Jahr 2020, also nach 27 Jahren, nicht ohne Gesetzgebungsakt allein aufgrund tagespolitischer Ereignisse angenommen werden.
Das FG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 12.10.2022 - 2 K 330/22 (EFG 2023, 151) als unzulässig abgewiesen. Sie sei mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Die nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO angeordnete Vorläufigkeit erstrecke sich, wenn es nicht ausdrücklich anders formuliert sei, auch auf später anhängig werdende einschlägige Verfahren zur Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht. Die Vorläufigkeit habe sich demnach materiell-rechtlich bereits auf die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags nach dem Auslaufen des Solidarpakts II und verfahrensrechtlich auf alle einschlägigen offenen Verfahren vor dem BVerfG (2 BvL 6/14, 2 BvR 1421/19, 2 BvR 1505/20) und Revisionsverfahren beim BFH (IX R 15/20) einschließlich des später anhängig gewordenen Revisionsverfahrens IX R 9/22 erstreckt. Das Rechtsschutzbedürfnis sei wegen des beim BVerfG anhängigen Musterverfahrens 2 BvR 1505/20 entfallen. Im Unterschied zu der vom FG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 16.05.2022 - 10 K 1693/21 (EFG 2022, 1397) vertretenen Rechtsmeinung sei das Musterverfahren nicht von vornherein aussichtslos. Zwar fehle es in diesem Verfahren an der erforderlichen Erschöpfung des Rechtswegs. Jedoch erscheine das Verfahren als Rechtssatzverfassungsbeschwerde im Sinne des Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, § 90 Abs. 2 Satz 2 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) nicht von vornherein aussichtslos. Es sei aufgrund der klaren Neuregelungen des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 keine vorausgehende Klärung einfachrechtlicher Fragen erforderlich. Bereits aufgrund der Anzahl einschlägig betroffener Fälle (im Jahr 2020 noch alle einkommensteuerpflichtigen Einkommen) sowie des Widerhalls, den die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 in der Diskussion unter Rechtsexperten und in der Öffentlichkeit gefunden habe, weise das BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 allgemeine Bedeutung im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG auf. Der Klägerin sei das Abwarten des Ausgangs des Musterverfahrens mit Blick auf den Zweck und die Schutzwirkung des Vorläufigkeitsvermerks zumutbar. Eine Ausnahme von dem bei Klagen gegen vorläufige Steuerbescheide regelmäßig fehlenden Rechtsschutzbedürfnis liege nicht vor.
Mit ihrer Revision bringt die Klägerin vor, eine nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO vorläufige Steuerfestsetzung mache eine Klage nicht unzulässig, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art geltend gemacht würden. Sie teile nicht die Auffassung, wonach das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvR 1505/20 erfolgversprechend sei. Das FG verkürze den Rechtsweg. Im BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 fehle es an der Rechtswegerschöpfung. Das Verfahren sei politisch motiviert. Die Jahresfrist nach § 93 Abs. 3 BVerfGG sei nicht eingehalten. Das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 sei 2019 nicht neu gefasst worden. Für 2020 sei "alles beim Alten" geblieben und es gelte die zuletzt im Jahr 2002 bekannt gemachte Fassung. Der Ausnahmefall, wonach eine Verfassungsbeschwerde ohne Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden könne, weil sie von allgemeiner Bedeutung sei oder dem Beschwerdeführer ein schwerer oder unabwendbarer Nachteil entstehe, liege nicht vor. Aus der langen Laufzeit von Verfahren zum Solidaritätszuschlag beim BVerfG könne nicht auf das Vorliegen allgemeiner Bedeutung geschlossen werden. Auch eine umfangreiche wissenschaftliche Diskussion begründe keine allgemeine Bedeutung, zumal die Fragen seit mehr als zehn Jahren erörtert würden und nicht neu seien. In der Sache halte sie daran fest, dass der Solidaritätszuschlag nicht mit Art. 106, Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar sei. Mit dem Auslaufen des Solidarpakts II sei die Rechtfertigung für die Ergänzungsabgabe entfallen. Ohne gesetzliche Grundlage könne der Solidaritätszuschlag nicht umgewidmet werden. Der Solidaritätszuschlag dürfe zu keiner versteckten Erhöhung der Einkommensteuer führen und das in Art. 106 GG verankerte Gefüge der Finanzverfassung aushebeln. Auch die Beschränkung des Solidaritätszuschlags auf die Steuerbürger mit höherem Einkommen sei willkürlich und verfassungswidrig. Entgegen der Ansicht des BFH im Urteil vom 17.01.2023 - IX R 15/20 (BFHE 279, 403, BStBl II 2023, 351) seien finanzielle Mehrbedarfe 30 Jahre nach der Wiedervereinigung keine wiedervereinigungsbedingten Mehrausgaben, sondern der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung der einzelnen Bundesländer geschuldet. Der Solidaritätszuschlag decke damit keinen vorübergehenden aufgabenbezogenen Mehrbedarf mehr ab. Vielmehr sei der Solidaritätszuschlag ein langfristiges Finanzierungsinstrument geworden und sei damit nichts anderes als eine zusätzlich erhobene Einkommensteuer.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des FG München vom 12.10.2022 - 2 K 330/22, den Bescheid über die Festsetzung des Solidaritätszuschlags 2020 vom 06.09.2021 und die Einspruchsentscheidung vom 18.01.2022 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuzuweisen.
Der Klägerin fehle das Rechtsschutzbedürfnis. Das BVerfG-Musterverfahren 2 BvR 1505/20 sei nicht von vornherein als aussichtslos anzusehen. Es stellten sich in dem Musterverfahren keine aufklärungsbedürftigen Tatsachenfragen. Aufgrund der Anzahl der betroffenen Fälle und der Diskussion über die Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlags unter Fachleuten und in der Öffentlichkeit liege eine allgemeine Bedeutung im Sinne von § 90 Abs. 2 Satz 2 BVerfGG vor. Es sei zumutbar, den Ausgang des BVerfG-Verfahrens 2 BvR 1505/20 abzuwarten. Das Verfahren umfasse alle Punkte der Klagebegründung der Klägerin.
II. Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Die Entscheidung des FG ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen.
1. Für die Klage fehlt wegen des Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO das Rechtsschutzbedürfnis. Die Klage war daher wegen Fehlens einer Sachurteilsvoraussetzung von Beginn an unzulässig.
a) Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn der Steuerbescheid in dem verfassungsrechtlichen Streitpunkt vorläufig ergangen ist, diese Streitfrage sich in einer Vielzahl im Wesentlichen gleich gelagerter Verfahren (Massenverfahren) stellt und bereits ein nicht von vornherein aussichtsloses Musterverfahren beim BVerfG anhängig ist (vgl. u.a. BFH-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.1.b; BFH-Urteil vom 16.02.2005 - VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323, unter II.1.a und BFH-Beschluss vom 30.11.2007 - III B 26/07, BFH/NV 2008, 374, unter II.3.a, jeweils m.w.N.). Liegen diese Voraussetzungen vor, muss ein Steuerpflichtiger im Allgemeinen die Klärung der Streitfrage in dem Musterverfahren abwarten, ohne dadurch unzumutbare Rechtsnachteile zu erleiden. Eine weitere verfassungsrechtliche Klärung in eigener Sache kann der Steuerpflichtige gegebenenfalls später durch Rechtsbehelfe gegen die vom FA nach § 165 Abs. 2 Satz 2 AO zu treffende Entscheidung herbeiführen, wenn ihm nach Ausgang des Musterverfahrens die Streitfrage nicht ausreichend beantwortet erscheint (BFH-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.1.b).
Bei verfassungsrechtlichen Streitfragen fehlt das Rechtsschutzbedürfnis erst, wenn das Musterverfahren bereits beim BVerfG anhängig ist. Andernfalls wäre unsicher, ob es überhaupt zu einer Klärung der Rechtsfrage durch das BVerfG kommen wird (vgl. BFH-Urteil vom 06.10.1995 - III R 52/90, BFHE 178, 559, BStBl II 1996, 20, unter II.2.a aa). Klage- und Musterverfahren müssen hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Streitfrage im Wesentlichen gleichgelagert sein. In dem Musterverfahren darf es nicht um einen anderen Sachverhalt gehen, der zusätzliche möglicherweise sogar vorrangige Streitfragen aufwirft. Klage- und Musterverfahren müssen zudem dieselben Vorschriften, nicht aber notwendig das gleiche Streitjahr, betreffen (vgl. BFH-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.1.b, m.w.N.). Notwendig ist allein, dass sich das Klageverfahren durch die Entscheidung in dem bereits anhängigen verfassungsrechtlichen Musterverfahren "sicher" erledigen lässt (vgl. BFH-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.2.; Reddig, AO-Steuerberater 2021, 25, 27).
Voraussetzung nach der oben genannten Rechtsprechung ist, dass das Musterverfahren nicht von vornherein aussichtslos erscheint. Die Anforderungen für die Annahme eines nicht von vornherein aussichtslosen Musterverfahrens, das beim BVerfG anhängig ist, dürfen nicht überspannt werden (vgl. Koenig/Gercke, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 165 Rz 25). Die in dem Musterverfahren geltend gemachten Argumente dürfen nicht so wenig Gewicht haben, dass dem Verfahren von vornherein eine Erfolgsaussicht abzusprechen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 07.02.1992 - III B 24, 25/91, BFHE 166, 418, BStBl II 1992, 408, unter 3.d). Insbesondere kommt es nach dem Wortlaut des § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO nicht darauf an, ob und in welchem Umfang das Musterverfahren letztlich Erfolg haben wird.
Etwas anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend gemacht werden, die es rechtfertigen, trotz Anhängigkeit des Musterverfahrens Rechtsschutz gegen den im Streitpunkt für vorläufig erklärten Bescheid zu gewähren (vgl. BFH-Beschluss vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506, unter II.1.b; BFH-Urteil vom 16.02.2005 - VI R 37/01, BFH/NV 2005, 1323, unter II.1.a und BFH-Beschluss vom 30.11.2007 - III B 26/07, BFH/NV 2008, 374, unter II.3.a). Ein Rechtsschutzbedürfnis kann bei vorläufiger Steuerfestsetzung unter anderem bestehen, wenn der Steuerpflichtige aus berechtigtem Interesse ein weiteres Verfahren einleiten will, weil er zum Beispiel bisher in den Musterverfahren nicht geltend gemachte Gründe substantiiert vorträgt und diese an das BVerfG oder den Gerichtshof der Europäischen Union herantragen möchte (vgl. BFH-Urteile vom 30.09.2010 - III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, Rz 50 und vom 16.02.2011 - X R 10/10, Rz 11). Dem Steuerpflichtigen darf dann nicht die Möglichkeit abgeschnitten werden, die verfassungsrechtlichen Bedenken in einem eigenen Verfahren zu verfolgen (Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz 18; Brockmeyer, Deutsche Steuer-Zeitung –DStZ– 1996, 1, 4).
b) Daran gemessen fehlte der Klägerin von Beginn des Klageverfahrens an das Rechtsschutzbedürfnis für ihr Begehren. Es ist der Klägerin zuzumuten, aufgrund des bestehenden Vorläufigkeitsvermerks den Ausgang des beim BVerfG anhängigen Verfahrens 2 BvR 1505/20 abzuwarten.
Im Zeitpunkt der Klageerhebung war vor dem BVerfG hinsichtlich der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 das Verfahren 2 BvR 1505/20 anhängig. Dieses Verfahren war unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 106 GG, Art. 3 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG eingeleitet worden. Die Klägerin beruft sich in ihrem Klageverfahren auf dieselben verfassungsrechtlichen Vorschriften wie in dem BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20. Auch sind dieselben Normen des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 streitig.
Die Klägerin hat im Klageverfahren keinen zusätzlichen Gesichtspunkt geltend gemacht, der im BVerfG-Verfahren 2 BvR 1505/20 keine Rolle spielt. Ungeachtet der Frage, ob die Begründung der Klägerin sich mit Blick auf die Verfassungswidrigkeit des Solidaritätszuschlaggesetzes 1995 als erfolgversprechend darstellt, hatte sie sich in ihrer Klage auf keinen weiteren Gesichtspunkt berufen, für den das anhängige Verfahren beim BVerfG nicht vorgreiflich ist.
Welche Erfolgsaussichten das beim BVerfG anhängige (Muster-)Verfahren 2 BvR 1505/20 hat, muss der erkennende Senat nicht entscheiden. Das Verfahren erscheint –trotz der möglicherweise fehlenden Rechtswegerschöpfung (§ 90 Abs. 2 BVerfGG)– jedenfalls nicht von vornherein aussichtslos und damit als Musterverfahren im Rahmen eines Vorläufigkeitsvermerks ungeeignet (vgl. zur Aufnahme in den Vorläufigkeitskatalog das BMF-Schreiben vom 15.01.2018, BStBl I 2018, 2 i.V.m. BMF-Schreiben vom 04.01.2021, BStBl I 2021, 49). Insbesondere besitzen die in der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Gründe, warum die Verfassungsbeschwerde trotz fehlender Rechtswegerschöpfung zulässig sein soll, nicht so wenig Gewicht, dass dem Verfahren von vornherein jede Erfolgsaussicht abzusprechen wäre.
Dieses Ergebnis verletzt auch nicht das Gebot eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) für das Begehren der Klägerin. Die Klägerin erleidet auch dann keine unzumutbaren Rechtsnachteile, wenn die materiell-rechtliche Frage in dem BVerfG-Musterverfahren 2 BvR 1505/20 nicht geklärt werden sollte. Die Klägerin kann nach Erledigung des Musterverfahrens gemäß § 165 Abs. 2 Satz 4 AO beantragen, dass die Festsetzung des Solidaritätszuschlags für endgültig erklärt wird, und gegen die dann auch insoweit endgültige Festsetzung Einspruch einlegen und gegebenenfalls anschließend Klage erheben zur weiteren verfassungsrechtlichen Klärung, ohne dass dem § 351 Abs. 1 AO entgegensteht (vgl. BFH-Urteil vom 30.09.2010 - III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, Rz 51; Seer in Tipke/Kruse, § 165 AO Rz 54; Klein/Rüsken, AO, 16. Aufl., § 165 Rz 32 und 85; Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165 AO Rz 155; Brockmeyer, DStZ 1996, 1, 3). Erklärt das FA die vorläufige Festsetzung des Solidaritätszuschlags für endgültig oder entfällt der Vorläufigkeitsvermerk in einem geänderten Bescheid, sind ebenfalls Einspruch und gegebenenfalls Klage möglich. Die dadurch entstehende zeitliche Verzögerung ist hinzunehmen (vgl. BFH-Beschluss vom 09.08.1994 - X B 26/94, BFHE 174, 498, BStBl II 1994, 803, unter II.2.d; kritisch mit Blick auf die langen Verfahrensdauern beim BVerfG Steinhauff, Steuerrecht kurzgefasst 2011, 139, 141).