BFH: Rechtliches Gehör zu Einschätzungen des gerichtseigenen Prüfers

BFH, Beschluss vom 29.08.2023, X B 18-20/23
Verfahrensgang: FG Niedersachsen, 7 K 257, 259, 261/20 vom 14.12.2022

Leitsatz:

NV: Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs gebietet es, den Beteiligten vor Erlass der Entscheidung die dem Gericht mitgeteilte mündliche Einschätzung des hierfür zur mündlichen Verhandlung hinzugezogenen gerichtseigenen Prüfers über die Bewertung der Zeugenaussage eines Kassenherstellers in einem Schätzungsfall zur Kenntnis zu bringen, auch wenn der gerichtseigene Prüfer weder förmlich als Sachverständiger beauftragt wurde noch eine schriftliche Stellungnahme abgegeben hat.

Gründe:

I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) sind Eheleute, die in den Streitjahren 2011 bis 2015 zur Einkommensteuer zusammenveranlagt werden. Der Kläger erzielt aus dem Betrieb eines Restaurants gewerbliche Einkünfte. Seinen Gewinn ermittelte er bis 2013 durch Einnahmen-Überschuss-Rechnung und ab 2014 durch Betriebsvermögensvergleich. Der Kläger nutzte bis zum 09.08.2012 eine elektronische Registrierkasse und ab dem 10.08.2012 ein PC-Kassensystem.

Nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) wurde am Ende eines jeden Öffnungstags ein Tagesendsummenbon (Z-Abschlag) aus der jeweils genutzten Kasse ausgedruckt. Der Hauptkellner übergab dem Kläger dann aus seinem Kellnerportemonnaie einen Bargeldbetrag, der dem auf dem Tagesendsummenbon ausgewiesenen Umsatz entsprach. Übersteigende Beträge durfte der Kellner als Trinkgeld behalten. Jeweils monatlich wurden dem Steuerberater der Kläger gesonderte Kassenbestandsrechnungen für jeden Öffnungstag des Restaurants übergeben, die allerdings in der Regel erst einige Zeit nach dem darin ausgewiesenen Öffnungstag erstellt worden waren. Darin war der Kassenbestand des Vortags um die Tageseinnahmen aus dem Tagesendsummenbon erhöht und um EC-Karten-Umsätze sowie Bargeld-Auszahlungen vermindert worden. Das Ergebnis war der neue Kassenbestand. Dieser wurde allerdings nicht durch tatsächliches Auszählen, sondern rein rechnerisch ermittelt. Wenn im Steuerbüro Rechenfehler in den Kassenbestandsberichten festgestellt wurden, wurde der Kläger darauf hingewiesen. Dieser erstellte dann die Kassenbestandsberichte ab dem Tag des Fehlers neu und vernichtete die ursprünglichen Berichte.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt –FA–) hielt die Kassenführung nicht für ordnungsgemäß und nahm Hinzuschätzungen zu den erklärten Erlösen vor.

Das FG wies die Klagen –nach Vernehmung des früheren Geschäftsführers des Herstellers der PC-Kasse und des Hauptkellners als Zeugen– ab. Die Kassenbestandsberichte seien nicht ordnungsgemäß, da sie nicht zeitnah erstellt worden seien und zudem zahlreiche Berichte vernichtet worden seien, nachdem das Steuerbüro auf Fehler hingewiesen habe, ohne dass die Korrekturen in den nacherstellten Berichten kenntlich gemacht worden seien. Zwar könne dies nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) dadurch ausgeglichen werden, dass die eingesetzte Kasse ordnungsmäßige Einzelaufzeichnungen vornehme; dies sei bei den vom Kläger verwendeten Kassen aber nicht der Fall gewesen. Die Registrierkasse habe Einzelaufzeichnungen bereits nach wenigen Tagen überschrieben. Die PC-Kasse habe die zunächst vergebenen fortlaufenden Datensatznummern im Rahmen einer monatlichen, aus "Performancegründen" vorgenommenen Reorganisation der Datenbank gelöscht. Die im Rahmen dieser Reorganisation neu vergebenen Datensatznummern seien nicht mehr fortlaufend. Eine Überprüfung der Einzeldaten auf Vollständigkeit sei daher nicht mehr möglich. Die vom Kläger eingesetzte Version der Kassensoftware habe zudem nicht die Unveränderlichkeit der gespeicherten Daten gewährleistet. Ein später vom Kassenhersteller angebotenes Software-Update habe diesen Mangel zwar behoben, sei aber vom Kläger nicht aufgespielt worden. Der Höhe nach schloss sich das FG der vom FA vorgenommenen Schätzung an.

Die Kläger (in Bezug auf die zu den Umsatzsteuer- und Gewerbesteuermessbescheiden ergangenen FG-Urteile nur der Kläger) begehren die Zulassung der Revision im Hinblick auf die Anwendung der Richtsatzsammlung und wegen Verfahrensmängeln. Hierzu tragen sie unter anderem vor, die Senatsvorsitzende des FG habe zu Beginn der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass die gerichtseigene Prüferin (P) der Verhandlung im Zuschauerraum beiwohnen werde. Dies diene der besseren Beurteilung von Ausführungen und Darlegungen über das Kassensystem. Anschließend habe unter anderem die Vernehmung des Geschäftsführers des Kassenherstellers –der zugleich der Entwickler der vom Kläger in der PC-Kasse eingesetzten Software war– über komplexe programmiertechnische Sachverhalte stattgefunden. Die Kläger haben weiter vorgetragen, in einer nachfolgenden Sitzungsunterbrechung habe sich die Senatsvorsitzende mit P unterhalten. Inwieweit diese Unterhaltung Auswirkungen auf die Urteilsfindung des FG gehabt habe, sei intransparent geblieben.

Im Protokoll über die mündliche Verhandlung werden diese Vorgänge nicht erwähnt. Die von dem Kläger beziehungsweise von den Klägern gestellten Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des Sitzungsprotokolls hatten keinen Erfolg.

Das FA hält die Beschwerden für unbegründet.

II. Die Beschwerden sind begründet. Es liegt jeweils ein geltend gemachter Verfahrensmangel vor, auf dem die Entscheidungen des FG beruhen können (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung –FGO–).

1. Die –zumindest sinngemäß erhobene– Rüge, das FG habe den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt, indem es sich von P habe beraten lassen, ohne die Kläger über deren Einschätzungen zu informieren, greift durch.

a) In seinen ablehnenden Entscheidungen über die gestellten Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des Sitzungsprotokolls hat das FG den Vortrag der Kläger bestätigt, die Beteiligten zu Beginn der mündlichen Verhandlung auf die Anwesenheit der P hingewiesen zu haben. P sei als justizinterne Gehilfin für die Richterinnen und Richter des Gerichts tätig. Unterhaltungen von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause seien nicht in das Protokoll aufzunehmen.

Diese Ausführungen des FG zugrunde gelegt, geht der Senat zunächst davon aus, dass der Tatsachenvortrag in der Beschwerdebegründung hinsichtlich der Anwesenheit der P in der mündlichen Verhandlung und des Gesprächs zwischen der Vorsitzenden des FG-Senats und P in einer Sitzungspause nach Vernehmung des Geschäftsführers des Kassenherstellers der Wahrheit entspricht. Die Beweiskraft des Protokolls (§ 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung) steht dieser Annahme nicht entgegen; denn unter Berücksichtigung der Ausführungen des FG zur Anwesenheit der P in der mündlichen Verhandlung und zu den –wie es das FG formuliert hat– "Unterhaltungen von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause" in den genannten Entscheidungen über die Anträge auf Ergänzung und Berichtigung des Sitzungsprotokolls ist offensichtlich, dass die nicht protokollierten Vorgänge stattgefunden haben (vgl. auch BFH-Beschluss vom 27.12.2010 - IX B 107/10, Rz 4; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 94 Rz 22).

b) Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes garantiert den Beteiligten an einem gerichtlichen Verfahren, dass sie Gelegenheit erhalten, sich zu dem einer gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt vor Erlass der Entscheidung zu äußern (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 29.05.1991 - 1 BvR 1383/90, BVerfGE 84, 188, unter II.1., mit zahlreichen weiteren Nachweisen). Dementsprechend bestimmt § 96 Abs. 2 FGO für das finanzgerichtliche Verfahren ausdrücklich, dass das Urteil nur auf Tatsachen und Beweisergebnisse gestützt werden darf, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten.

c) Zum Tätigwerden gerichtseigener Prüfer hat der BFH bereits entschieden, dass jedenfalls eine schriftliche Stellungnahme eines solchen Prüfers zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört (Senatsbeschluss vom 16.07.2019 - X B 114/18, BFH/NV 2019, 1127, Rz 22 ff.). Zudem ist der aufgrund eines förmlichen Beweisbeschlusses eingesetzte gerichtseigene Prüfer als Sachverständiger anzusehen (BFH-Beschluss vom 07.11.1995 - VIII B 31/95, BFH/NV 1996, 344, unter II.b aa, mit zahlreichen weiteren Hinweisen auf die ältere Rechtsprechung; BFH-Beschluss vom 02.08.2005 - IV B 185/03, BFH/NV 2005, 2224, unter 3.e).

Vorliegend hat P zwar weder eine schriftliche Stellungnahme verfasst noch ist sie durch einen förmlichen Beweisbeschluss als Sachverständige beauftragt worden. Gleichwohl gebietet es der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, dass ein Gericht auch solche Informationen, die es sich von einer als Sachverständige in Betracht kommenden Person ohne deren förmliche Beauftragung beschafft, den Beteiligten offenlegt.

Das FG hatte die Beteiligten zu Beginn der mündlichen Verhandlung nach dem glaubhaften und vom FG bestätigten Vorbringen der Kläger ausdrücklich darauf hingewiesen, dass P im Sitzungssaal anwesend sei und dies der besseren Beurteilung von Ausführungen und Darlegungen über das Kassensystem diene. Nach der –im Hinblick auf die Kassenprogrammierung sehr detailreichen und komplexen– Vernehmung des Geschäftsführers des Kassenherstellers ist es zu einem Gespräch zwischen der Vorsitzenden des FG-Senats und P gekommen. Die angefochtenen Urteile sind entscheidend auf die tatrichterliche Bewertung der Zeugenaussage gestützt worden.

Vor diesem Hintergrund kann jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass es sich bei dem Gespräch zwischen der Vorsitzenden und P nicht lediglich um eine "Unterhaltung von Gerichtsangehörigen in der Sitzungspause" gehandelt hat, sondern dass P der Vorsitzenden ihre Einschätzung zur Bewertung der Zeugenaussage und zu den darin angesprochenen komplexen programmtechnischen Sachverhalten mitgeteilt hat. Eine solche Einschätzung, die Teil des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) wäre, hätte das FG den Beteiligten bekanntgeben müssen, damit diese dazu Stellung nehmen können.

d) Zwar setzt eine formgerechte Gehörsrüge grundsätzlich Darlegungen dazu voraus, was der Rechtsmittelführer dem FG bei ausreichender Gehörsgewährung noch vorgetragen hätte (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 09.04.2008 - I R 43/07, BFH/NV 2008, 1848, unter II.2.c, m.w.N.). Dies kann vorliegend jedoch nicht gefordert werden, weil bisher sowohl den Klägern als auch dem beschließenden Senat unbekannt geblieben ist, welche Informationen und Einschätzungen P der Vorsitzenden des FG-Senats in der Sitzungspause mitgeteilt hat.

2. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, die angefochtenen Urteile aufzuheben und die Rechtsstreitigkeiten zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.