BFH: Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme

Finanzgerichtsordnung

BFH, Beschluss vom 22.07.2024, V B 38/23
Verfahrensgang: FG Berlin-Brandenburg, 5 K 5035/21 vom 02.05.2023

Leitsatz:

NV: Das Finanzgericht verstößt gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn im Urteil nicht zum Ausdruck kommt, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und bei der Urteilsfindung berücksichtigt wurde (Anschluss an Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 27.11.2018 - V B 72/18, BFH/NV 2019, 202).

Gründe:

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) bezog in 2015 (Streitjahr) Leistungen zur Renovierung und Modernisierung eines von ihm betriebenen Hotels. Er machte den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen mehrerer Unternehmer geltend, zu denen auch der Einzelunternehmer P gehörte.

Nach Durchführung einer Außenprüfung schätzte der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt --FA--) Umsätze hinzu und versagte den Vorsteuerabzug durch den geänderten Umsatzsteuerjahresbescheid vom 04.08.2020. Den dagegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 16.02.2021 als unbegründet zurück.

Hiergegen erhob der Kläger Klage. Das Finanzgericht (FG) führte in der mündlichen Verhandlung vom 23.02.2023 in der Besetzung mit den ehrenamtlichen Richtern A und B eine Beweiserhebung durch Einvernahme der Zeugen P und K durch. Das FG schloss die mündliche Verhandlung und verkündete den Beschluss, eine Entscheidung zuzustellen.

Das FA änderte am 19.04.2023 den Umsatzsteuerbescheid 2015 und minderte die vom FA vorgenommenen Hinzuschätzungen der Umsätze. Der Änderungsbescheid wurde gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des Klageverfahrens.

In einer zweiten mündlichen Verhandlung vom 02.05.2023, an der an Stelle der ehrenamtlichen Richter A und B, die ehrenamtlichen Richter C und D teilnahmen, wurden die Protokolle der Zeugenvernehmungen von P und K verlesen.

In seinem aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 02.05.2023 ergangenen Urteil gab das FG der Klage hinsichtlich noch vorhandenen Hinzuschätzungen statt, weil es die Zeugenaussagen des K als glaubhaft ansah. Die Klage gegen die Versagung des Vorsteuerabzugs aus den Rechnungen des P sah das FG als unbegründet an. In diesem Zusammenhang verwies das FG darauf, dass es Beweis erhoben habe durch die Vernehmung des Zeugen P und des Zeugen K (FG-Urteil S. 7). Die Versagung des Vorsteuerabzugs begründete das FG damit, dass "nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht zu erkennen" gewesen sei, dass eine tatsächliche Leistungserbringung entsprechend der Leistungsbeschreibungen in den Rechnungen erfolgt sei. Der Zeuge P habe "in seiner Vernehmung durch den Senat" vielmehr angegeben, dass die abgerechneten Leistungen von ihm und seinem einzigen Arbeitnehmer gar nicht hätten erbracht werden können. Der Kläger habe eigene Leute gehabt, die die später von ihm, dem Zeugen, abgerechneten Arbeiten ausgeführt hätten. Die ausgewiesenen Rechnungsbeträge habe er, der Zeuge, nicht vollständig erhalten. Diese Aussage decke sich mit den Angaben, die der Zeuge anlässlich der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht ... in dem gegen ihn wegen Steuerhinterziehung geführten Strafverfahren gemacht habe. Ohne Erfolg verweise der Kläger auf die im Widerspruch zu diesen Angaben stehende Bestätigung des Zeugen P vom 05.02.2019, die gegenüber dem Kläger abgerechneten Arbeiten tatsächlich ausgeführt zu haben. Der Senat vermöge letztlich nicht aufzuklären, welche der sich widersprechenden Angaben des Zeugen der Wahrheit entsprechen. Dies gehe angesichts der Feststellungslast des Klägers für die ihm günstigen steuerlichen Tatsachen zu dessen Lasten (FG-Urteil S. 10 und 11).

Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision.

II. Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils sowie zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

1. Nach § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung zu erheben.

a) Der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verpflichtet das FG, Zeugen grundsätzlich selbst zu hören, um sich nicht mit nur schriftlich übermittelten Bekundungen derselben zu begnügen. Das FG soll die Glaubhaftigkeit der Aussagen aufgrund des persönlichen Eindrucks von den Zeugen wie auch durch kritische Nachfrage überprüfen (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs --BFH-- vom 26.07.2010 - VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096, Rz 11).

b) Ändert sich die personelle Zusammensetzung des erkennenden Gerichts, darf eine frühere Beweisaufnahme gleichwohl ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme im Wege der Protokollverlesung in das neue Verfahren eingeführt werden. Dies setzt aber voraus, dass bei der Beweiswürdigung nunmehr nur das berücksichtigt wird, was auf der Wahrnehmung aller an der Entscheidung jetzt beteiligten Richter beruht oder aktenkundig ist und wozu die Beteiligten sich zu erklären Gelegenheit hatten (BFH-Beschlüsse vom 30.04.2003 - I B 120/02, BFH/NV 2003, 1587; vom 07.02.2007 - X B 105/06, BFH/NV 2007, 962 und vom 16.12.2014 - X B 114/14, BFH/NV 2015, 511, Rz 11).

Auf dieser Grundlage verstößt das FG insbesondere dann gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn im Urteil nicht zum Ausdruck kommt, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und bei der Urteilsfindung berücksichtigt wurde (BFH-Beschlüsse vom 12.01.2016 - VII B 111/15, BFH/NV 2016, 579, Rz 7; vom 26.07.2010 - VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096, Rz 14; vom 27.11.2018 - V B 72/18, BFH/NV 2019, 202, Rz 7). Dies gilt auch im Fall eines Wechsels auf der Richterbank.

2. Danach hat das FG im Streitfall gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen, da es bei seiner Entscheidung aufgrund der mündlichen Verhandlung am 02.05.2023 nicht erkannt hat, dass es sich bei der in dieser mündlichen Verhandlung verlesenen Zeugenaussage des P nicht um einen Zeugenbeweis, sondern um einen Urkundenbeweis gehandelt hat. Zwar konnte es aufgrund des Wechsels in der Richterbank die vor diesem Wechsel durch Zeugenbeweis erlangten Beweisergebnisse berücksichtigen. Dies konnte aber, wie vorstehend dargelegt, nur im Wege des Urkundenbeweises erfolgen, was dem FG im Ausgangspunkt auch präsent war, wie sich aus der Verlesung der Zeugenaussagen nach dem Wechsel auf der Richterbank in der zweiten mündlichen Verhandlung ergibt. Das FG hat aber in seinem aufgrund dieser mündlichen Verhandlung ergangenen Urteil die Ergebnisse der von der "alten" Richterbank durchgeführten Zeugenvernehmung nicht als Urkundenbeweis, sondern als Zeugenbeweis gewürdigt und damit den unterschiedlichen Beweiswert von Zeugen- und Urkundenbeweis verkannt, wie sich insbesondere daraus ergibt, dass das FG von einer Vernehmung des Zeugen durch den erkennenden Senat, nicht aber von einer Verlesung des Protokolls über die Zeugenvernehmung ausging (FG-Urteil S. 10).

Hätte das FG erkannt, dass seiner Beweiswürdigung nicht ein Zeugen- und ein Urkundenbeweis zugrunde lag, sondern dass es sich aufgrund der Verlesung der Aussage des Zeugen P ebenfalls nur um einen Urkundenbeweis handelte und somit zwei sich widersprechende Urkunden vorlagen, hätte es den Zeugen P in der Besetzung der geänderten Richterbank zur Vermeidung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme nochmals als Zeugen vernehmen müssen und keine Entscheidung nach Maßgabe der Feststellungslast treffen dürfen. Denn bei der Würdigung sich widersprechender Aussagen ein und derselben Person kommt es auf den persönlichen Eindruck des Zeugen zur Beurteilung seiner Glaubwürdigkeit und letztlich der Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage an. Aus der verlesenen Zeugenaussage des P ergaben sich keine hinreichenden Angaben zur Glaubwürdigkeit des P.

3. Der Kläger hat sein Recht, die Verletzung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme als Verfahrensfehler zu rügen, nicht gemäß § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung dadurch verloren, dass er diese Rüge nicht schon in der mündlichen Verhandlung, in der er durch den Prozessbevollmächtigten vertreten war, erhoben hat. Denn es kann auch von einem fürsorglichen und verantwortungsbewusst handelnden Prozessvertreter ohne Überspannung seiner Sorgfaltspflichten nicht verlangt werden, dass er in Voraussicht eines erst den schriftlichen Urteilsgründen zu entnehmenden Verfahrensfehlers des Gerichts auf die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme besteht (BFH-Beschluss vom 17.05.2005 - VI B 162/04, BFH/NV 2005, 1613, unter II.3.).

4. Der Senat sieht es als sachgerecht an, gemäß § 116 Abs. 6 FGO das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen.