BFH: Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung wegen Missbrauchs; Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug
Umsatzsteuer
BFH, Urteil vom 12.07.2023, XI R 5/21
Verfahrensgang: FG Rheinland-Pfalz, 3 K 1192/18 vom 24.11.2020
Leitsatz:
1. Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland.
2. Es bleibt offen, ob der Begriff "geschuldet" im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 - C-9/20 (EU:C:2022:88, Rz 49) sowie der Art. 167, Art. 179 Satz 1 MwStSystRL eine zeitliche Komponente enthält und deshalb dahin gehend zu verstehen ist, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden schon geschuldet werden muss, um vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).
Gründe:
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt –FA–) die dem Kläger und Revisionskläger (Kläger) erteilte Gestattung der Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten (sogenannte Ist-Besteuerung) zu Recht widerrufen hat.
Der Kläger ist Unternehmer und besteuert seine Umsätze aufgrund einer Genehmigung vom 02.04.1987, die unter dem Vorbehalt des Widerrufs erteilt worden ist, nach vereinnahmten Entgelten.
Im Sommer 2015 fand beim Kläger eine Außenprüfung des –damals noch für den Kläger örtlich zuständigen– FA D statt. Der Prüferin fiel dabei auf, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Firmen (Leistungsempfängerinnen) unternehmerisch tätig war, denen er in erheblichem Umfang Rechnungen mit gesondertem Ausweis von Umsatzsteuer erteilt hatte, die von den Leistungsempfängerinnen jedoch nur über Verrechnungskonten gebucht und über mehrere Jahre hinweg nicht bezahlt wurden. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass ein zeitnaher Zufluss der Entgelte für die abgerechneten Leistungen beim Kläger nicht angestrebt worden sei, sondern hätte gezielt vermieden werden sollen.
Das FA D widerrief daraufhin die Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten mit Bescheid vom 18.11.2015 zum 01.01.2016. Die sofortige Vornahme des Vorsteuerabzugs bei den Leistungsempfängerinnen bei fehlender Vereinnahmung der Entgelte für die Umsätze beim Kläger begründe bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die Gestattung missbraucht werde.
Der Einspruch des Klägers, mit dem er vortrug, die Ablehnung sei ermessensfehlerhaft auf Liquiditätsvorteile des leistenden Unternehmers gestützt worden, obwohl gerade die Stärkung der Liquidität kleiner und mittlerer Unternehmer Zweck der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten sei und Zinsnachteile der Finanzverwaltung vom Zweck der Vorschrift umfasst seien, wies das mittlerweile zuständig gewordene FA durch Einspruchsentscheidung vom 26.01.2018 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2021, 790 veröffentlichten Urteil ab.
Zwar habe die Finanzbehörde bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) grundsätzlich die Erlaubnis zu erteilen (Ermessensreduzierung auf Null). § 20 UStG beruhe zulässigerweise auf Art. 66 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Der Widerruf der Gestattung mit Wirkung für die Zukunft komme jedoch gemäß § 131 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) in Betracht. Dabei handele es sich um eine Ermessensentscheidung, die gemäß § 102 der Finanzgerichtsordnung (FGO) grundsätzlich nur der eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliege.
Vorliegend sei zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung die Ermessensentscheidung des FA nicht zu beanstanden. Es liege der Widerrufsgrund der Gefährdung des Steueraufkommens vor. Angesichts der verbliebenen Unklarheiten im Geschäftsgebaren des Klägers und bei der Überprüfung der von ihm erklärten Umsätze habe das FA ermessensfehlerfrei die erteilte Erlaubnis zur Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten gemäß § 20 UStG widerrufen.
Unabhängig davon, ob es Zweck des § 20 UStG sei, kapitalschwache Unternehmen von den Belastungen der Sollbesteuerung auszunehmen, oder ob § 20 UStG lediglich der Verfahrensvereinfachung diene und die Liquiditätsvorteile lediglich hingenommen würden, sei es mit beiden genannten Zwecken vereinbar, die Genehmigung nach § 20 UStG zu versagen beziehungsweise zu widerrufen, wenn das Zusammenspiel von § 20 UStG einerseits und § 15 UStG andererseits die Gefahr des Missbrauchs und des Steuerausfalls nahelege. Die Vornahme des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger bei gleichzeitig fehlenden Umsätzen beim leistenden Unternehmen rechtfertige bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die dem leistenden Unternehmen erteilte Zustimmung gemäß § 20 UStG missbraucht werde. Das Verhalten bringe zudem die Gefahr von endgültigen Steuerausfällen mit sich. Aufgrund der fehlenden Mitwirkung des Klägers könne das FA nicht feststellen, ob tatsächliche Steuerausfälle eingetreten sind. Eine Gefährdung des Steueraufkommens sei damit gegeben.
In diesem Zusammenhang sei auch zu beachten, dass aus der Abhängigkeit des Entstehens des Rechts auf Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger von der Entstehung der Steuer beim leistenden Steuerpflichtigen gemäß Art. 167 MwStSystRL folge, dass wenn der Leistende ausnahmsweise seine Leistungen gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL nach vereinnahmten Entgelten besteuere, auch das Recht auf Vorsteuerabzug beim Leistungsempfänger erst zu diesem Zeitpunkt, also mit Bezahlung der Rechnung entstehe. Der Zusammenhang mit der Regelung des Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL, wonach in die Rechnung die Angabe der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten aufzunehmen ist, zeige, dass dies als verbindlich aufzufassende Vorgabe aufzufassen sei. Beziehe man diese Erwägungen in die Ermessensentscheidung ein, liege ein krasser Missbrauch der Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten im Streitfall vor, da der Kläger nicht nur eine zeitweilige Belastung mit der bei der Besteuerung nach vereinbarten Entgelten vorzufinanzierenden Umsatzsteuer vermeiden und eine Kostenneutralität der Umsatzsteuer erreichen wolle, sondern in erheblichem Umfang ein Auseinanderklaffen von Steuerentstehung und Vorsteuerabzug zu Finanzierungszwecken zu erreichen versuche. Der Widerruf der Gestattung verstoße daher nicht gegen die in Art. 66 Abs. 1 Buchst. b, Art. 167, Art. 167a und Art. 226 Nr. 7a MwStSystRL enthaltenen Grundsätze, sondern folge der richtlinienkonformen Auslegung des § 20 UStG.
Das vor dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) anhängige Verfahren Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 vom 10.02.2022 - C-9/20 (EU:C:2022:88) sei nicht entscheidungserheblich. Sofern der EuGH die deutsche Praxis für unionsrechtswidrig erklären sollte, entfiele ohnehin der vom Kläger erstrebte Vorfinanzierungseffekt. Dies beantworte aber nicht die hier strittige Rechtsfrage nach dem Vorliegen der Voraussetzungen für einen Widerruf der Gestattung nach nationalem Recht.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts sowie Verfahrensfehler.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des FG, den Widerrufsbescheid vom 18.11.2015 und die Einspruchsentscheidung vom 26.01.2018 aufzuheben.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückweisen.
Es verteidigt die angefochtene Vorentscheidung.
Mit Schreiben vom 16.03.2023 hat der erkennende Senat die Beteiligten auf das EuGH-Urteil Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 vom 10.02.2022 - C-9/20 (EU:C:2022:88) hingewiesen.
Der Kläger bringt dazu vor, dem Leistungsempfänger stehe bis zu einer notwendigen gesetzlichen Anpassung des nationalen Rechts ein Wahlrecht zu, sich entweder auf das nationale (unionsrechtswidrige) Recht oder das Recht der Europäischen Union (EU) für die Frage seiner Vorsteuerabzugsberechtigung zu berufen. Eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts contra legem sei unzulässig. Der EuGH fordere jedoch nicht, dass im Fall einer unionsrechtswidrigen Vorsteuerabzugsgewährung die unionsrechtskonforme Gewährung der Ist-Besteuerung des Leistungserbringers zu versagen sei. Auch dies würde zu einer unzulässigen unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts contra legem führen, wenn trotz Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen die Ist-Besteuerung versagt werden würde. Allein mit dem Argument, einen Vorteil des Leistungsempfängers –durch einen (nach Unionsrecht) zu frühen Vorsteuerabzug– zu Lasten des Leistungserbringers zu kompensieren, dürfe die Gewährung der Ist-Besteuerung des Leistungserbringers (hier des Klägers) nicht widerrufen werden.
Das FA bringt dazu vor, dem Fiskus drohten auch zukünftig weitere Steuerausfälle, solange das nationale Recht noch nicht an Art. 167, 167a, 178, 179 MwStSystRL angepasst worden sei. Das deutsche Recht entspreche nicht den Vorgaben des EU-Rechts und müsse daher auf nationaler Ebene neu geregelt werden. Die Konsequenzen und die erforderlichen Änderungen der §§ 14, 15 und 20 UStG würden derzeit erörtert. Mangels Umsetzung der MwStSystRL in das nationale Recht könne das EuGH-Urteil momentan keine Anwendung finden. Missbräuchliche Praktiken, die das nationale Recht bedingt, müssten daher mit den Möglichkeiten des nationalen Rechts unterbunden werden. Der Unternehmer könne sich nicht auf die Regelungen der MwStSystRL berufen, um die für ihn günstige nationale Regelung und sein auffälliges Abrechnungsgebaren mit verbundenen Unternehmen aufrechtzuerhalten. Der Streitfall betreffe das Besteuerungsverfahren des Leistenden und nicht das Besteuerungsverfahren des Leistungsempfängers. Die Leistungsempfänger hätten den Vorsteuerabzug aus den Rechnungen des Klägers im hohen Umfang nach Maßgabe des nationalen Umsatzsteuerrechts (vgl. Abschn. 15.2 Abs. 2 Satz 1 und 2 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses –UStAE–) bereits erwirkt, während der Kläger nur geringe Umsätze besteuert habe. Es liegt insoweit ein Missbrauch der nationalen Regelungen durch den Kläger vor, da er einerseits die Vorsteuerbeträge bei den Leistungsempfängern, deren Geschäftsführer oder Anteilseigner er sei, sofort (durch den direkten Vorsteuerabzug bei Rechnungslegung) vereinnahmt und andererseits die zeitnahe Besteuerung in seinem Einzelunternehmen zu vermeiden versuche.
II. Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage. Das FA kann sich auf die von ihm bejahte Gefährdung des Steueraufkommens im Streitfall nicht berufen, weil den Leistungsempfängern des Klägers der Vorsteuerabzug nach Art. 167 MwStSystRL erst zusteht, wenn diese die Umsatzsteuer an den Kläger gezahlt haben. Ob dieses Ergebnis im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen durch eine richtlinienkonforme Auslegung des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG gefunden werden kann oder der Gesetzgeber dazu zunächst das nationale Recht anpassen muss, bedarf im Streitfall keiner Entscheidung.
1. Zutreffend hat das FG erkannt, dass ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 131 Abs. 2 Satz 1 AO ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft unter anderem nur widerrufen werden darf, wenn der Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassen oder im Verwaltungsakt vorbehalten ist (Nr. 1). Erhält die Finanzbehörde von Tatsachen Kenntnis, welche den Widerruf eines rechtmäßigen begünstigenden Verwaltungsakts rechtfertigen, so ist der Widerruf nur innerhalb eines Jahres seit dem Zeitpunkt der Kenntnisnahme zulässig (§ 131 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 130 Abs. 3 Satz 1 AO).
a) Im Streitfall hat sich das FA nach den tatsächlichen Feststellungen des FG bei Gestattung der Ist-Besteuerung im Jahr 1987 einen Widerruf im Sinne des § 131 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO vorbehalten. Dabei sind das FA und das FG davon ausgegangen, dass es sich bei der damaligen Gestattung um einen Dauerverwaltungsakt handelte (vgl. zur Abgrenzung Beschluss des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 23.12.2021 - V B 22/21 (AdV), BFH/NV 2022, 741, Rz 15 f.). In dem Widerruf ist im Sinne des § 131 Abs. 3 AO der 01.01.2016 als Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Widerrufs bestimmt. Der Zuständigkeit des FA für die Entscheidung steht wegen § 131 Abs. 4 AO nicht entgegen, dass die Gestattung von einem anderen FA erteilt worden war.
b) Selbst bei Existenz eines Widerrufsvorbehalts ist jedoch der Widerruf des begünstigenden Verwaltungsakts unzulässig, wenn der Erlass des Verwaltungsakts (zum Beispiel infolge einer Ermessensreduzierung auf Null) geboten war (vgl. BFH-Urteil vom 07.11.2013 - IV R 13/10, BFHE 243, 350, BStBl II 2015, 226, Rz 50).
2. Gemessen daran ist der Widerruf unzulässig. Die vom FA als Widerrufsgrund angeführte, vom FG ebenfalls bejahte Gefährdung des Steueraufkommens beruht auf der unionsrechtlich unzutreffenden Prämisse, dass bei Leistungsbezug vom Kläger den Leistungsempfängerinnen der sofortige Vorsteuerabzug zusteht. Dies trifft jedoch nicht zu (Art. 167 MwStSystRL).
a) Die Finanzbehörde kann gemäß § 20 Abs. 1 UStG unter weiteren Voraussetzungen, die im Streitfall vorliegen, auf Antrag gestatten, dass ein Unternehmer die Steuer nicht nach den vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG), sondern nach den vereinnahmten Entgelten berechnet.
aa) Die Gestattung ist ein begünstigender sonstiger Ermessens-Verwaltungsakt im Sinne der §§ 130, 131 AO (vgl. BFH-Beschluss vom 22.02.2013 - V B 72/12, BFH/NV 2013, 984, Rz 12; BFH-Urteil vom 18.08.2015 - V R 47/14, BFHE 251, 287, BStBl II 2018, 611, Rz 15). Das Gericht kann gemäß § 102 FGO nur die maßgeblichen Ermessenserwägungen der Verwaltung überprüfen und darf keine eigenen Ermessenserwägungen anstellen (vgl. BFH-Beschluss vom 16.11.1993 - V B 70/93, juris, Rz 11, 15; BFH-Urteil vom 18.11.2015 - XI R 38/14, BFH/NV 2016, 950, Rz 27). Entsprechend unterliegt auch der Widerruf der Gestattung gemäß § 102 FGO nur eingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung (vgl. zur Rücknahme BFH-Urteile vom 11.11.2020 - XI R 41/18, BFHE 271, 261, BStBl II 2023, 288, Rz 50; vom 11.11.2020 - XI R 40/18, BFH/NV 2021, 668, Rz 49).
bb) Ob dem Antrag grundsätzlich unter dem Vorbehalt jederzeitigen Widerrufs "zu entsprechen ist", wenn der Unternehmer eine der Voraussetzungen des § 20 Abs. 1 UStG erfüllt (so noch Abschn. 20.1 Abs. 1 Satz 2 UStAE a.F. bis 31.07.2023), oder dem Antrag grundsätzlich "entsprochen werden kann", wenn der Unternehmer eine der Voraussetzungen des § 20 Satz 1 Nr. 1 bis 3 UStG erfüllt (so Abschn. 20.1 Abs. 1 Satz 2 UStAE i.d.F. ab 01.08.2013) oder die Versteuerung nach vereinnahmten Entgelten "für jeden Unternehmer in Betracht kommt", soweit er die Voraussetzungen des § 20 Satz 1 Nr. 1 bis 4 UStG erfüllt (so Abschn. 20.1 Abs. 1 Satz 2 i.d.F. des BMF-Schreibens vom 12.04.2023, BStBl I 2023, 734), ist umstritten. Eine Ermessensreduzierung auf Null, von der das FG (in seinem Urteil vom 24.11.2020 - 3 K 1192/18, EFG 2021, 790, Rz 16) unter Hinweis auf die finanzgerichtliche Rechtsprechung (Niedersächsisches FG vom 21.02.2008 - 16 K 385/06, EFG 2008, 1077, Rz 39; FG Berlin-Brandenburg vom 18.06.2014 - 2 K 2149/11, juris, Rz 22) ausgegangen ist (vgl. ebenso z.B. Frye in Rau/Dürrwächter, Umsatzsteuergesetz, § 20 Rz 202; Schüler-Täsch in Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 20 Rz 73; Radeisen in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 20 Rz 102; Mrosek in Wäger, UStG, 2. Aufl., § 20 Rz 14; für Ermessen hingegen Michel in Offerhaus/Söhn/Lange, § 20 UStG Rz 142; Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG § 20 Rz 19; Bunjes/Korn, UStG, 21. Aufl., § 20 Rz 27; Mann in Küffner/Zugmaier, Umsatzsteuer, Kommentar, § 20 Rz 27; BeckOK UStG/Müller, 38. Ed. [17.09.2023], UStG § 20 Rz 123 ff.), hat der BFH bisher jedoch noch nicht bejaht (vgl. BFH-Beschluss vom 10.12.1993 - V B 100/93, juris, Rz 8). Er hat bisher lediglich angenommen, dass die Gestattung somit in das pflichtgemäße Ermessen (§ 5 AO) des FA gestellt werde (vgl. BFH-Urteil vom 18.11.2015 - XI R 38/14, BFH/NV 2016, 950, Rz 26), ohne sich zu weiteren Einschränkungen dieses Ermessens abschließend zu äußern.
cc) Einer abschließenden Entscheidung durch den Senat bedarf diese Frage auch vorliegend nicht; denn auch die Vertreter der Auffassung, dass die Entscheidung in das Ermessen des FA gestellt sei, gehen davon aus, dass die Ablehnung des Antrags ermessenswidrig ist, wenn sie auf sachwidrigen Gründen beruht (Michel in Offerhaus/Söhn/Lange, § 20 UStG Rz 142). Soweit der Unternehmer wegen der Ist-Besteuerung Finanzierungsvorteile erlange, sei dies allein kein Ablehnungsgrund (Friedrich-Vache in Reiß/Kraeusel/Langer, UStG § 20 Rz 19; Mann in Küffner/Zugmaier, Umsatzsteuer, Kommentar, § 20 Rz 28). Der Gesichtspunkt einer Gefährdung des Steueraufkommens zum Beispiel werde bei der Ermessensentscheidung des FA zwar von besonderer Bedeutung sein; zu berücksichtigen sei aber auch, dass die Gefährdung erst durch die Inanspruchnahme des Vorsteuerabzugs durch den Leistungsempfänger entstehe. Bei Anwendung der Grundsätze des Art. 167 MwStSystRL komme in Fällen der vereinbarungsgemäß aufgeschobenen Zahlungen ein Vorsteuerabzug erst bei Zahlung in Betracht, so dass eine Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen sei (Michel in Offerhaus/Söhn/Lange, § 20 UStG Rz 144).
b) Im Streitfall hat das FA den Widerruf darauf gestützt, dass die Vornahme des Vorsteuerabzugs beim Leistungsempfänger bei gleichzeitig fehlenden Umsätzen beim leistenden Unternehmer bei nahestehenden Personen die Vermutung begründe, dass die dem leistenden Unternehmer erteilte Gestattung missbraucht werde.
c) Dies trifft indes nicht zu.
aa) Nach dem EuGH-Urteil Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 vom 10.02.2022 - C-9/20 (EU:C:2022:88) steht Art. 167 MwStSystRL einer nationalen Regelung entgegen, nach der das Recht auf Vorsteuerabzug bereits im Zeitpunkt der Ausführung des Umsatzes entsteht, wenn der Steueranspruch gegen den Lieferer oder Dienstleistungserbringer nach einer nationalen Abweichung gemäß Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL erst bei Vereinnahmung des Entgelts entsteht und dieses noch nicht gezahlt worden ist. Das Recht auf Vorsteuerabzug wird nämlich nach Art. 167, 179 Satz 1 MwStSystRL (vorbehaltlich der Bestimmung des Art. 178 MwStSystRL) während des gleichen Zeitraums ausgeübt, in dem es entstanden ist, das heißt, wenn der Anspruch auf die Steuer entsteht (vgl. EuGH-Urteil EUROVIA vom 30.04.2020 - C-258/19, EU:C:2020:345, Rz 41, m.w.N.).
bb) Das bedeutet, dass es zu dem von FA und FG bejahten Missbrauch kraft Unionsrechts nicht kommen kann. Die Frage, ob dem leistenden Unternehmer die Ist-Besteuerung gestattet wird, hat nur Auswirkung darauf, ob sowohl die Umsatzsteuer als auch das Recht auf Vorsteuerabzug bereits bei Ausführung des Umsatzes (Art. 63 MwStSystRL) oder erst bei Vereinnahmung (Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL) entstehen. Ein zeitliches Auseinanderfallen, das durch den Widerruf der Gestattung gegenüber dem Kläger verhindert werden soll, ist unionsrechtlich nicht möglich. Es beruht nicht auf dem von FA und FG beanstandeten Verhalten des Klägers, sondern –wenn überhaupt– auf der unzutreffenden Umsetzung des Unionsrechts in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland).
cc) Der Umstand, dass die Umsatzsteuer und das Recht auf Vorsteuerabzug in den Fällen der Ist-Besteuerung erst bei Vereinnahmung des Entgelts entstehen, ist ebenfalls nicht missbräuchlich und führt nicht zu einer Gefährdung des Steueraufkommens. Sie beruht auf der Einführung des § 20 UStG durch den Gesetzgeber.
(1) Zwar ist die Sollbesteuerung der durch Art. 63 MwStSystRL vorgesehene Regelfall; die Pflicht zur Entrichtung der Steuer richtet sich grundsätzlich an die leistenden Unternehmer als Steuerpflichtige, wenn sie eine steuerbare Leistung steuerpflichtig erbringen, ohne dass diese Pflicht vom vorherigen Erhalt der Gegenleistung oder zumindest des Steuerbetrags abhängt (EuGH-Urteil X-Beteiligungsgesellschaft vom 28.10.2021 - C-324/20, EU:C:2021:880, Rz 53 f.). Der Leistende schuldet die Mehrwertsteuer, selbst wenn er von seinem Kunden noch keine Zahlung für den bewirkten Umsatz erhalten hat, und das Recht auf Vorsteuerabzug bezieht sich auf eine geschuldete Mehrwertsteuer (EuGH-Urteil Kommission/Ungarn vom 28.07.2011 - C-274/10, EU:C:2011:530, Rz 46 und 47).
(2) Allerdings enthält das Unionsrecht nicht nur mit Art. 90, 185 MwStSystRL, sondern auch mit Art. 66 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL eine Möglichkeit zur Abmilderung der Verpflichtung zu einer gegebenenfalls mehrjährigen Vorfinanzierung der Umsatzsteuer, die mit Blick auf die dem Unternehmer zukommende Aufgabe, "öffentliche Gelder" als "Steuereinnehmer für Rechnung des Staates" zu vereinnahmen (vgl. z.B. EuGH-Urteile A-PACK CZ vom 08.05.2019 - C-127/18, EU:C:2019:377, Rz 22; E. (TVA - Reducion de la base d´imposition) vom 15.10.2020 - C-335/19, EU:C:2020:829, Rz 31; X-Beteiligungsgesellschaft vom 28.10.2021 - C-324/20, EU:C:2021:880, Rz 52) und dem Umstand, dass die Mehrwertsteuer letztlich vom Endverbraucher getragen werden soll (vgl. EuGH-Urteil Netto Supermarkt vom 21.02.2008 - C-271/06, EU:C:2008:105, Rz 21) durchaus systemgerecht sind.
(3) Von dieser Möglichkeit hat Deutschland mit § 20 UStG Gebrauch gemacht. Eine gesetzlich geschaffene Möglichkeit, unter bestimmten, vom Gesetzgeber definierten Voraussetzungen die Entstehung der Steuer hinauszuschieben, als Leistender in Anspruch zu nehmen, ist seitens des Leistenden nicht missbräuchlich, was FA und FG nicht beachtet haben.
(4) Es ist auch zu beachten, dass das FA und das FG eingetretene Steuerausfälle oder eine Gefährdung des Steueraufkommens trotz § 17 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG und trotz einer möglichen Vereinnahmung durch Abtretung oder Schuldumschaffung (Novation) einerseits zu Lasten des Klägers unterstellen, um andererseits davon auszugehen, dass die abschließende Beurteilung in den Besteuerungsverfahren des Klägers und der Leistungsempfängerinnen getroffen werde. Das nationale Verfahrensrecht sieht im Falle der Verletzung abgabenrechtlicher Mitwirkungspflichten zwar vor, dass aus dem Verhalten des Klägers (Steuerpflichtigen) für ihn nachteilige Schlüsse gezogen werden können, die sich nicht auf bezifferbare Besteuerungsgrundlagen beschränken; das gilt vor allem dann, wenn die Mitwirkungspflichten Tatsachen und Beweismittel –wie im Streitfall– aus der Wissens- und Einflusssphäre des Klägers (Steuerpflichtigen) betreffen (vgl. grundlegend BFH-Urteil vom 15.02.1989 - X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462). Jedoch lassen der Vortrag des FA und das Urteil des FG nicht erkennen, inwieweit die Sachverhaltsermittlung unter Geltung der Soll-Besteuerung weniger schwierig wäre als unter Geltung der Ist-Besteuerung.
3. Ob das unter II.2.c dargestellte Ergebnis im Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen seit dem Besteuerungszeitraum 2016, zu dem der Widerruf erfolgen sollte, durch richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts erreicht werden kann, bedarf vorliegend keiner Entscheidung.
a) Eine dem Art. 167 MwStSystRL vergleichbare Vorschrift enthält das nationale Recht bisher nicht ausdrücklich.
aa) § 13 regelt nur die Entstehung der Steuer und nicht die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug. Von der nach § 16 Abs. 1 UStG berechneten Steuer sind nach § 16 Abs. 2 UStG die in den Besteuerungszeitraum fallenden, nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen.
bb) § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG regelt, dass der Unternehmer unter anderem die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen kann.
b) Für die Auslegung dieser Vorschriften könnte bedeutsam sein, dass aufgrund der Rechtsprechung des EuGH (grundlegend EuGH-Urteil Genius Holding vom 13.12.1989 - C-342/87, EU:C:1989:635) der BFH § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Wege richtlinienkonformer Auslegung (vgl. BFH-Urteil vom 02.04.1998 - V R 34/97, BFHE 185, 536, BStBl II 1998, 695, Leitsatz 1 und Rz 19 ff.) dahin gehend einschränkend ausgelegt hat, dass nicht jeder, sondern nur der "geschuldete" Steuerbetrag als Vorsteuer abziehbar ist (vgl. auch BFH-Urteile vom 29.08.2018 - XI R 37/17, BFHE 262, 286, BStBl II 2019, 378, Rz 18; vom 05.12.2018 - XI R 10/16, BFH/NV 2019, 433, Rz 58; vom 23.10.2019 - V R 46/17, BFHE 267, 140, BStBl II 2022, 779, Rz 17). Diese vom BFH bereits vorgenommene, das frühere Verständnis des § 15 UStG einschränkende Auslegung könnte auch eine zeitliche Komponente beinhalten: Der Begriff "geschuldet" im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG könnte im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 vom 10.02.2022 - C-9/20 (EU:C:2022:88, Rz 49) sowie des Art. 167 MwStSystRL dahin gehend zu verstehen sein, dass die Steuer schon geschuldet werden muss, um als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).
c) Darauf kommt es im Streitfall, in dem nur über den Widerruf der Gestattung der Besteuerung nach vereinnahmten Entgelten zu entscheiden ist, indes nicht an. Darüber ist vielmehr in den Besteuerungsverfahren der Leistungsempfängerinnen zu entscheiden (vgl. zur möglichen Trennung der Verfahren auch BFH-Urteil vom 11.11.2020 - XI R 41/18, BFHE 271, 261, BStBl II 2023, 288, Rz 11).
d) Sollte den Leistungsempfängerinnen der Vorsteuerabzug nicht zu versagen sein, obwohl –was allerdings bisher ebenfalls nicht feststeht– der Kläger die Umsatzsteuer möglicherweise noch nicht vereinnahmt hat, wäre dies vom Mitgliedstaat Deutschland hinzunehmen.
4. Ebenso wenig kommt es darauf an, ob, nach welcher Vorschrift und wann die vom Kläger in Rechnung gestellte Umsatzsteuer entstanden ist (vgl. dazu BFH-Urteile vom 26.11.1964 - V 194/62 U, BFHE 81, 512, BStBl III 1965, 184; vom 22.10.1970 - V R 171/66, BFHE 100, 334, BStBl II 1971, 79; vom 09.10.2002 - V R 73/01, BFHE 200, 130, BStBl II 2003, 217, unter II.2.c und e; vom 13.01.2005 - V R 21/04, BFH/NV 2005, 928, unter II.3. und 4.; vom 05.06.2014 - XI R 44/12, BFHE 245, 473, BStBl II 2016, 187, Rz 50 und 51 sowie § 16 Abs. 1 Satz 4 UStG).
a) Nicht geklärt werden muss weiter, ob diese gegebenenfalls durch einen pactum de non petendo, wegen Überschuldung der Leistungsempfängerinnen oder Ähnliches in voller Höhe uneinbringlich im Sinne des § 17 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 und 2 UStG geworden sein könnte (vgl. dazu BFH-Urteile vom 13.02.2019 - XI R 19/16, BFH/NV 2019, 928, Rz 25; vom 24.10.2013 - V R 31/12, BFHE 243, 451, BStBl II 2015, 674; vom 01.02.2022 - V R 37/21 (V R 16/19), BFHE 275, 460, BStBl II 2022, 860, Rz 16; vom 28.09.2022 - XI R 28/20, BFHE 278, 355, BStBl II 2023, 598, Rz 32; BFH-Beschluss vom 24.06.2015 - XI B 63/14, Umsatzsteuer- und Verkehrsteuer-Recht 2015, 335, Rz 9 ff.; s.a. BFH-Urteil vom 10.04.2019 - XI R 4/17, BFHE 264, 382, BStBl II 2019, 635, Rz 42).
b) Es muss ferner nicht entschieden werden, ob –falls der Kläger tatsächlich Leistungen ausgeführt hat– die wenigen bei den Akten befindlichen Ausgangsrechnungen des Klägers überhaupt dazu geeignet sein könnten, ein gegebenenfalls bestehendes Recht auf Vorsteuerabzug auszuüben (vgl. EuGH-Urteil Barlis 06 - Investimentos Imobiliarios e Turisticos vom 15.09.2016 - C-516/14, EU:C:2016:690, Rz 25 ff.; Shortcut vom 24.05.2023 - C-690/22, EU:C:2023:440, Rz 34 ff., 50 und 52).