BFH zur Zulässigkeit eines Beschlusses nach § 126a FGO und zur Bestimmung des Ortes der wirtschaftlichen Tätigkeit

Finanzgerichtsordnung / Umsatzsteuer

BFH, Beschluss vom 18.10.2023, XI R 22/20
Verfahrensgang: FG Rheinland-Pfalz, 6 K 1789/18 vom 25.06.2020

Leitsatz:

1. NV: Ein besonderes Interesse eines Beteiligten an der Durchführung einer mündlichen Verhandlung (hier: aufgrund "existentieller Bedrohung") steht einer Entscheidung nach § 126a FGO nicht entgegen.

2. NV: Die Beurteilung, von welchem Ort ein Unternehmer sein Unternehmen betreibt oder an welchem Ort –unionsrechtlich– der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, obliegt dem FG als Tatsacheninstanz.

Gründe:

I. Streitig ist, ob die Empfängerin von Leistungen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) im Inland ansässig ist.

Die Klägerin, eine AG, betätigte sich vorwiegend im Bereich "Internet Protocol Television". Vorstände waren A und B, die jeweils etwa ein Viertel der Aktien der Klägerin hielten. Die übrigen Aktien befanden sich in Streubesitz.

Die Klägerin entwickelte im Jahr 2005 einen internetbasierten Onlinedienst, mit dem Endkunden Fernsehsendungen frei empfangbarer Sender aufzeichnen und als Videodatei herunterladen oder direkt streamen konnten. Der Onlinedienst konnte in eingeschränktem Umfang vom Endkunden gratis in Anspruch genommen werden. "Premium User" konnten weitere Optionen nutzen, wenn sie sogenannte Good-Will-Points (GWP) durch Zahlungen an die Klägerin erwarben. Die meisten Kunden überwiesen Beträge in der Größenordnung von 5 € bis 20 € auf Konten der Klägerin und erlangten dadurch ein entsprechendes GWP-Guthaben. Die Server, über die die Webseite des Onlinedienstes betrieben wurde, standen in Rechenzentren im Ausland.

Die Klägerin machte gegenüber dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt –FA–) geltend, die Betreiberin der Webseite sei die I-AG mit Sitz auf den Seychellen (X). Die Klägerin erbringe gegenüber der I-AG Programmierleistungen sowie die mit dem Betrieb der Webseite verbundenen Inkassomaßnahmen. Diese Leistungen seien nicht im Inland steuerbar, da die Leistungen an einen anderen Unternehmer gemäß § 3a Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) als an dem Ort ausgeführt gelten, von dem aus der Leistungsempfänger sein Unternehmen betreibe. Des Weiteren teilte die Klägerin mit, dass seit dem 01.01.2017 die I-Inc. Rechtsnachfolgerin der I-AG sei, die ihren Sitz in den Vereinigten Staaten von Amerika (Y) habe.

Nach zwei Außenprüfungen ging das FA zunächst unter anderem davon aus, dass die Umsätze aus dem Betrieb der Webseite der Klägerin zuzurechnen seien. Es erließ am 11.04.2016 gegen die Klägerin entsprechende Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für die Jahre 2011 und 2012 und erstmalige Umsatzsteuerbescheide für die Jahre 2013 und 2014 sowie am 19.12.2016 einen Umsatzsteuerbescheid für das Jahr 2015. Die Mehrumsätze erschloss das FA aus dem Konto, auf dem die Klägerin die Zahlungen der Kunden für die GWP verbucht hatte.

Gegen die Umsatzsteuerbescheide 2011 bis 2015 legte die Klägerin Einsprüche ein und erhob am 21.08.2018 beim Finanzgericht (FG) Untätigkeitsklage wegen Umsatzsteuer 2011 bis 2015 (Streitjahre).

Am 20.02.2019 erließ das FA einen auf § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) gestützten Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für das Jahr 2014.

Nach weiteren Ermittlungen ging das FA davon aus, dass der Klägerin die Umsätze des Onlinedienstes doch nicht zuzurechnen seien. Allerdings habe die Klägerin Leistungen an die I-AG erbracht (Programmierleistungen et cetera), für die der Leistungsort gemäß § 3a Abs. 2 UStG im Inland liege, da die laufenden Geschäfte der I-AG vom Inland aus gesteuert würden. Die Bemessungsgrundlage für diese steuerpflichtigen Leistungen ergebe sich aus der Rechnungslegung der Klägerin an die I-AG.

Das FA setzte im Rahmen der Einspruchsentscheidung vom 03.01.2020 die Umsatzsteuer für die Streitjahre entsprechend herab. Im Übrigen wies es die Einsprüche als unbegründet zurück.

Das FG wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1356 veröffentlichten Urteil ab. Die Leistungen der Klägerin an die I-AG seien im Inland erbracht und damit umsatzsteuerbar und umsatzsteuerpflichtig. Es könne nicht mit der gebotenen Sicherheit festgestellt werden, dass sich der Ort der Geschäftsleitung der I-AG in den Streitjahren im Ausland befunden habe. Vielmehr sprächen zahlreiche Indizien dafür, dass die Geschäfte der I-AG in den Streitjahren durch die beiden Vorstandsmitglieder der Klägerin geführt wurden, A und B die Entscheidungsträger der I-AG seien und es sich bei der I-AG um eine Briefkastenfirma handele.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das FG habe den Sachverhalt nicht zutreffend und vollständig ermittelt und gegen die Gesetze der Logik verstoßen. Es hätte die Zeugen V und T vernehmen müssen. Das FG habe außerdem Art. 10 Abs. 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 282/2011 des Rates vom 15.03.2011 zur Festlegung von Durchführungsvorschriften zur Richtlinie 2006/112/EG über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwSt-DVO) nicht beachtet. Wo die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung der I-AG getroffen worden seien, habe das FG nicht geprüft. Es habe sich nicht damit auseinandergesetzt, was erforderlich sei, um die I-AG zu betreiben und zu leiten. Dabei habe das FG auch nicht die einzelnen Jahre betrachtet. Die Vorstände der Klägerin hätten jedenfalls keine wesentlichen Entscheidungen für die allgemeine Leitung der I-AG in der Bundesrepublik Deutschland getroffen. V, ein russischer Staatsangehöriger, der in Y und in Russland lebe, habe allein die I-AG geleitet und seine Entscheidungen in Russland oder in Y, aber jedenfalls nicht im Inland getroffen. V sei zu keinem Zeitpunkt im Inland gewesen und habe eine russische E-Mail-Adresse und Mobilfunknummer verwendet.

Die Klägerin hat keinen ausdrücklichen Antrag gestellt. Sie beantragt sinngemäß,

die Vorentscheidung aufzuheben und entsprechend ihrem erstinstanzlich gestellten Klageantrag zu entscheiden, das heißt die Umsatzsteuer-Änderungsbescheide für 2011 und 2012 vom 11.04.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.01.2020 aufzuheben sowie die Umsatzsteuerbescheide für 2013 vom 11.04.2016, für 2014 vom 20.02.2019 und für 2015 vom 19.12.2016, alle in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.01.2020, dahin zu ändern, dass die Umsätze zum Regelsteuersatz im Jahr 2013 um … €, im Jahr 2014 um … € und im Jahr 2015 um … € gemindert werden.

Das FA beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Auf den Hinweis des Senats vom 25.05.2023, dass beabsichtigt sei, gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO) zu entscheiden, hat die Klägerin mit Schreiben vom 16.06.2023 und 29.09.2023 vorgetragen, dass hiergegen Einwände bestünden.

II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a FGO.

1. Eine Entscheidung nach § 126a FGO ist –entgegen der Auffassung der Klägerin– im Streitfall zulässig. Einer Entscheidung nach § 126a FGO steht die Komplexität von Rechtsfragen nicht entgegen (vgl. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs –BFH– vom 21.06.1994 - VII R 68/93, BFH/NV 1995, 91, Rz 2 zur Vorgängervorschrift des Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs –BFHEntlG–; vom 08.02.2007 - I R 51/04, juris, unter II.1.; vom 01.09.2021 - VI R 18/19, BFH/NV 2022, 13, Rz 27). Auch ein besonderes Interesse der Klägerin an einer mündlichen Verhandlung aufgrund einer von ihr so wahrgenommenen "existenziellen Bedrohung" hindert eine Entscheidung nach § 126a FGO nicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom 29.08.2012 - XI R 19/09, BFH/NV 2013, 272, Rz 14; vom 20.10.2021 - XI R 19/20, BFH/NV 2022, 429, Rz 25).

2. Die Vorschrift ist auch verfassungsgemäß. Verfassungsbeschwerden wegen Entscheidungen im Beschlusswege nach § 126a FGO, obwohl ein Antrag auf mündliche Verhandlung gestellt worden war, hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht zur Entscheidung angenommen (s. BVerfG-Beschluss vom 10.06.2009 - 1 BvR 676/08, juris). Das BVerfG hat lediglich zum Ausdruck gebracht, dass eine Begründung verfassungsrechtlich geboten sei, wenn das Revisionsgericht vom eindeutigen Wortlaut einer Rechtsnorm oder von einer in der höchstrichterlichen Rechtsprechung bisher üblichen Auslegung abweichen wolle (vgl. BVerfG-Beschlüsse vom 02.10.1984 - 1 BvR 123/83, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR– 1985, 237; vom 04.12.1992 - 1 BvR 1411/89, HFR 1993, 202, Rz 2 ; vom 08.12.1992 - 1 BvR 326/89, Neue Juristische Wochenschrift 1994, 574, Rz 2; vom 06.09.1996 - 1 BvR 1485/89, HFR 1996, 827, Rz 5; jeweils zur Verfassungsmäßigkeit der Vorgängervorschrift des Art. 1 Nr. 7 BFHEntlG).

3. Der Anwendung des § 126a FGO steht nicht entgegen, dass sich die Richterbank gegenüber der Sitzung vom … geändert hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 15.09.2021 - XI R 12/21 (XI R 25/19), BFHE 274, 317, BStBl II 2022, 417, Rz 21; vom 07.07.2022 - V R 10/20, BFHE 276, 445, Rz 9).

III. Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich (§ 126a Satz 1 FGO). Die Beteiligten sind unter Hinweis auf die hierfür maßgeblichen Gründe davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das FG hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden, dass die Klägerin im Inland steuerbare und steuerpflichtige sonstige Leistungen an die I-AG erbracht hat.

1. Es liegen keine Verfahrensverstöße vor.

a) Der Senat versteht den Vortrag der Klägerin zu den "unklaren" Entscheidungsgründen (auch) als Rüge, die Vorentscheidung sei insoweit verfahrensfehlerhaft nicht mit Gründen versehen (Verletzung von § 96 Abs. 1 Satz 3, § 105 Abs. 2 Nr. 5 FGO, Verfahrensfehler gemäß § 119 Nr. 6 FGO). Dieser Verfahrensfehler liegt jedoch nicht vor.

aa) Von einem Verstoß gegen das Begründungsgebot und damit vom Vorliegen eines Verfahrensmangels im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO ist (nur) dann auszugehen, wenn den Beteiligten –zumindest in Bezug auf einen der wesentlichen Streitpunkte– die Möglichkeit entzogen ist, die getroffene Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 11.12.2013 - XI B 33/13, BFH/NV 2014, 714, Rz 17; vom 11.05.2015 - XI B 29/15, BFH/NV 2015, 1257, Rz 11, m.w.N.; vom 31.01.2019 - V B 99/16, BFH/NV 2019, 409, Rz 22). Ein Urteil enthält unter anderem dann keine hinreichenden Entscheidungsgründe, wenn das FG einen selbständigen Anspruch oder ein selbständiges Angriffs- oder Verteidigungsmittel mit Stillschweigen übergeht oder einen bestimmten Sachverhaltskomplex überhaupt nicht berücksichtigt; eine zu kurze, lücken- oder fehlerhafte Urteilsbegründung ist dagegen kein Verfahrensfehler (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 03.02.2016 - XI B 53/15, BFH/NV 2016, 954, Rz 20; vom 23.03.2021 - XI B 69/20, BFH/NV 2021, 1108, Rz 34; BFH-Urteil vom 14.11.2018 - XI R 32/17, BFH/NV 2019, 280, Rz 22 und 23, m.w.N.). Ebenso liegt kein Verfahrensfehler vor, wenn noch zu erkennen ist, welche Feststellungen und Überlegungen für das Gericht maßgeblich waren (vgl. BFH-Beschlüsse vom 21.07.2017 - X B 167/16, BFH/NV 2017, 1447; vom 17.08.2020 - II B 32/20, BFH/NV 2021, 31, Rz 11; in BFH/NV 2021, 1108, Rz 34).

bb) Im Streitfall ist aus dem angefochtenen Urteil zu erkennen, wie das FG zu seiner Auffassung gelangt ist, die Umsatzsteuerbescheide seien rechtmäßig, weil die Klägerin an die I-AG steuerbare und steuerpflichtige inländische Leistungen erbracht habe. Das FG hat ausführlich dargelegt, aufgrund welcher Anhaltspunkte es davon ausgeht, dass die I-AG in den Streitjahren im Inland ansässig war. Der Vortrag zur I-Inc. und dem Jahr 2017 ist für den Streitfall unerheblich, da dieser nicht die Streitjahre betrifft.

b) Die Rügen, das FG habe gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO) verstoßen und seine Sachaufklärungspflicht (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) verletzt, bleiben ohne Erfolg.

aa) Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Es erhebt Beweis in der mündlichen Verhandlung (§ 81 Abs. 1 Satz 1 FGO).

bb) Bei der Verletzung der Sachaufklärungspflicht handelt es sich um einen verzichtbaren Verfahrensmangel (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung), bei dem das Rügerecht nicht nur durch eine ausdrückliche oder konkludente Verzichtserklärung gegenüber dem FG verloren geht, sondern auch durch das bloße Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse vom 02.03.2017 - XI B 81/16, BFH/NV 2017, 748, Rz 31; vom 26.04.2018 - XI B 117/17, BFH/NV 2018, 953, Rz 34). Gleiches gilt für die angebliche Verletzung der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (vgl. BFH-Beschlüsse vom 02.07.2019 - III B 125/18, BFH/NV 2019, 1115, Rz 8; vom 05.08.2022 - VI B 65/21, BFH/NV 2022, 1185, Rz 9). Danach hat die unterlassene rechtzeitige Rüge den endgültigen Rügeverzicht zur Folge (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 12.05.2022 - V R 31/20, BFH/NV 2022, 1153, Rz 43, m.w.N.). Deshalb muss vorgetragen werden, dass der angebliche Verstoß in der Vorinstanz gerügt wurde oder aus welchen entschuldbaren Gründen eine solche Rüge vor dem FG nicht möglich war (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 23.03.2021 - XI B 69/20, BFH/NV 2021, 1108, Rz 28, m.w.N.).

cc) Im Streitfall hat die Rüge der mangelnden Sachaufklärung und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme schon deshalb keinen Erfolg, weil die Klägerin, die im Termin zur mündlichen Verhandlung am 25.06.2020 durch einen sachkundigen Prozessbevollmächtigten vertreten war, ausweislich des Sitzungsprotokolls die angeblichen Verstöße nicht gerügt, sondern zur Sache verhandelt und einen Sachantrag gestellt hat. Dass und gegebenenfalls aus welchen Gründen ihr die Rüge nicht möglich gewesen sei, hat sie nicht vorgetragen.

dd) Der Senat weist bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass auch dann, wenn der für die Anwendung der Steuerrechtsnorm maßgebliche Sachverhalt nur zum Teil Auslandsbezug hat, den Steuerpflichtigen insoweit die Verpflichtung aus § 90 Abs. 2 Satz 1 AO trifft, den behaupteten Sachverhalt aufzuklären und die erforderlichen Beweismittel zu beschaffen, insbesondere im Streitfall die benannten Zeugen in der mündlichen Verhandlung zu stellen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 06.06.2006 - XI B 162/05, BFH/NV 2006, 1785, unter II.; vom 24.10.2006 - XI B 112/05, BFH/NV 2007, 201, unter a).

ee) Rechtsfragen des Unionsrechts stellen sich insoweit nicht, da X und Y Drittlandsgebiet (§ 1 Abs. 2a Satz 3 UStG) sind.

2. In der Sache hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise die Umsätze der Klägerin an die I-AG als im Inland steuerbare und steuerpflichtige Leistungen angesehen.

a) Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Dies beruht auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL).

aa) Nach § 3a Abs. 1 UStG wird eine sonstige Leistung an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Abweichend davon wird nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG eine sonstige Leistung, die an einen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird, grundsätzlich an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung an die Betriebsstätte eines Unternehmers ausgeführt, ist stattdessen der Ort der Betriebsstätte maßgebend (§ 3a Abs. 2 Satz 2 UStG). § 3a UStG ist richtlinienkonform auszulegen (vgl. BFH-Urteile vom 19.11.1998 - V R 30/98, BFHE 187, 348, BStBl II 1999, 108, unter II.1.b; vom 30.06.2011 - V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 16; BFH-Beschluss vom 14.04.2010 - V B 157/08, BFH/NV 2010, 1315, Rz 4).

Unionsrechtlich beruht § 3a Abs. 2 Satz 1 und 2 UStG auf Art. 44 MwStSystRL. Nach Art. 44 Satz 1 MwStSystRL gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Anknüpfungspunkt als vorrangigen gewählt, da er als objektives, einfaches und praktisches Kriterium große Rechtssicherheit bietet (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union –EuGH– Welmory vom 16.10.2014 - C-605/12, EU:C:2014:2298, Rz 53 ff.). Der Ort einer Dienstleistung kann auch nicht deshalb geändert werden, weil bei dem betreffenden Umsatz Mehrwertsteuer hinterzogen wurde (vgl. EuGH-Urteil Climate Corporation Emissions Trading vom 27.10.2022 - C-641/21, EU:C:2022:842, Rz 52).

bb) Als Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Steuerpflichtigen gilt nach Art. 10 Abs. 1 MwSt-DVO der Ort, an dem die Handlungen zur zentralen Verwaltung des Unternehmens vorgenommen werden. Zur Bestimmung des Ortes werden der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden, der Ort seines satzungsmäßigen Sitzes und der Ort, an dem die Unternehmensleitung zusammenkommt, herangezogen (Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 1 MwSt-DVO). In Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 2 MwSt-DVO ist geregelt, dass für den Fall, dass anhand dieser Kriterien der Ort des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, der Ort zum vorrangigen Kriterium wird, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden. Zudem sieht Art. 10 Abs. 3 MwSt-DVO vor, dass allein aus dem Vorliegen einer Postanschrift nicht geschlossen werden kann, dass sich dort der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens befindet.

Art. 65 MwSt-DVO ordnet zwar die Anwendung dieser Regelungen erst ab dem 01.07.2011 an. Bestimmungen der MwSt-DVO können aber trotzdem für Zeiträume vor ihrem Inkrafttreten zur Auslegung herangezogen werden, als sie Begriffe klarstellen, die sich bereits zuvor in der Richtlinie 77/388/EWG oder der MwStSystRL befunden haben, und dabei der Rechtsprechung des EuGH auf diesem Gebiet Rechnung tragen wollen. Dies ist für bestimmte Begriffe, die für die Festlegung der für den Ort der steuerbaren Umsätze maßgeblichen Kriterien erforderlich sind, der Fall (EuGH-Urteil Welmory, EU:C:2014:2298, Rz 44 ff.; vgl. auch BFH-Beschluss vom 15.09.2021 - XI R 12/21 (XI R 25/19), BFHE 274, 317, BStBl II 2022, 417, Rz 30).

cc) Ist der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung dieser Gesellschaft getroffen und die Handlungen zu deren zentraler Verwaltung vorgenommen werden (EuGH-Urteil Planzer Luxembourg vom 28.06.2007 - C-73/06, EU:C:2007:397, Tenor Ziffer 2, zur Richtlinie 79/1072/EWG), und ist die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems (EuGH-Urteil Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, Rz 43), ist eine fiktive Ansiedlung (zum Beispiel "Briefkastenfirma" oder "Strohfirma") nicht als Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit einzustufen (vgl. EuGH-Urteile Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, Rz 62; Eurofood IFSC vom 02.05.2006 - C-341/04, EU:C:2006:281, Rz 35, m.w.N.; BFH-Urteile vom 14.05.2008 - XI R 58/06, BFHE 221, 505, BStBl II 2008, 831, unter II.2.b bb aaa; vom 30.06.2011 - V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 19).

dd) Bei der Bestimmung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft ist eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, und zwar in erster Linie der statuarische Sitz, der Ort der zentralen Verwaltung, der Ort, an dem die Führungskräfte der Gesellschaft zusammentreffen, und der –gewöhnlich mit diesem übereinstimmende– Ort, an dem die allgemeine Unternehmenspolitik dieser Gesellschaft bestimmt wird. Andere Elemente, wie der Wohnsitz der Hauptführungskräfte, der Ort, an dem die Gesellschafterversammlung zusammentritt, der Ort, an dem die Verwaltungsunterlagen erstellt und die Bücher geführt werden, und der Ort, an dem die Finanz- und insbesondere die Bankgeschäfte hauptsächlich wahrgenommen werden, können ebenfalls in Betracht gezogen werden. Zwar kann ein und derselbe Ort gleichzeitig Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit und feste Niederlassung des betreffenden Unternehmens sein; der Begriff des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit hat jedoch eine vom Begriff der Niederlassung unabhängige Bedeutung (vgl. EuGH-Urteile Planzer Luxembourg, EU:C:2007:397, Rz 58; Stoppelkamp vom 06.10.2011 - C-421/10, EU:C:2011:640, Rz 30 ff.; BFH-Urteile vom 14.05.2008 - XI R 58/06, BFHE 221, 505, BStBl II 2008, 831, unter II.2.b bb aaa; vom 30.06.2011 - V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 18).

ee) Ob im Einzelfall unter Anwendung dieser Grundsätze im Inland erbrachte Leistungen vorliegen, ist grundsätzlich Tatfrage und als solche vom FG zu beurteilen. Der Senat ist grundsätzlich an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Zu den der Bindung unterliegenden Feststellungen gehören auch die Schlussfolgerungen tatsächlicher Art, wenn das FG weder gegen Denkgesetze verstoßen noch wesentliche Umstände vernachlässigt hat (vgl. BFH-Urteile vom 28.02.2008 - V R 44/06, BFHE 221, 415, BStBl II 2008, 586; vom 03.07.2014 - III R 30/11, BFHE 246, 477, BStBl II 2015, 157, Rz 33, m.w.N.; vom 16.03.2022 - VIII R 24/19, BFHE 276, 127, BStBl II 2022, 450, Rz 17).

b) Nach diesen Maßstäben ist das angefochtene Urteil revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Beurteilung, von welchem Ort ein Unternehmer sein Unternehmen betreibt, oder wo –unionsrechtlich– der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, obliegt dem FG als Tatsacheninstanz. An die tatsächliche Würdigung des FG ist der BFH nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden.

aa) Das FG ist von den unter III.2.a genannten Grundsätzen ausgegangen; dabei hat das FG die festgestellten Umstände, obwohl es teilweise von den Grundsätzen der "Feststellungslast" gesprochen hat, umfassend in eine tatsächliche Würdigung einbezogen und dabei unter anderem berücksichtigt, dass eine Reihe von Umständen dafür sprechen, dass die Geschäfte der I-AG durch die Vorstände der Klägerin (A und B) geführt wurden (Urteil Seite 16 folgende). Dazu hat die Vorinstanz eine Reihe von Beweisanzeichen zusammengetragen, die darauf hinweisen, dass es sich bei der I-AG um eine sogenannte Briefkastenfirma beziehungsweise eine sogenannte Offshore-Gesellschaft gehandelt hat, die nur formal ihren Sitz in X hatte, ohne dort eine wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet zu haben (siehe Urteil Seiten 15 folgende).

bb) Diese tatsächliche Würdigung ist aufgrund der vom FG festgestellten Tatsachen möglich und weder durch Denkfehler noch durch die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst; sie bindet daher den Senat (§ 118 Abs. 2 FGO). Die vom FG festgestellten Beweisanzeichen lassen den Schluss zu, dass sich der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen wurden, im Inland befunden hat. Da dies das vorrangige Kriterium ist, steht dem nicht der statuarische Sitz der I-AG in X entgegen.

cc) Auf die Frage, wo V und T ansässig waren, kommt es nicht an, wenn man mit dem FG davon ausgeht, dass die Geschäfte der I-AG nicht durch V oder T, sondern durch die Vorstände der Klägerin (A und B) geführt wurden.

dd) Soweit die Einwendungen der Klägerin größtenteils darin bestehen, dass sie ihre abweichende Würdigung an die Stelle der Würdigung des FG setzt, berücksichtigt sie nicht, dass die tatsächliche Würdigung für den BFH als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO auch dann bindend ist, wenn die Würdigung des FG nicht zwingend, aber möglich ist (vgl. BFH-Beschluss vom 15.09.2021 - XI R 12/21 (XI R 25/19), BFHE 274, 317, BStBl II 2022, 417, Rz 47, m.w.N.). Ob die tatsächliche Würdigung des FG zwingend oder naheliegend ist, hat der Senat insoweit nicht zu entscheiden (vgl. BFH-Urteil vom 02.07.2021 - XI R 29/18, BFHE 274, 8, BStBl II 2022, 205, Rz 28, m.w.N.).