BGH zum Anspruch auf rechtliches Gehör; hier: Nichtberücksichtigung eines Fristverlängerungsantrags

Verfahrensrecht

BGH, Beschluss vom 20.02.2024, VIII ZR 238/22
Verfahrensgang: LG Göttingen, 3 O 40/20 vom 03.03.2021
OLG Braunschweig, 9 U 45/22 vom 17.10.2022

Leitsatz:

a) Das Berufungsgericht darf eine Berufung nicht gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückweisen, ohne zuvor über den rechtzeitig eingegangenen Antrag des Berufungsführers auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO entschieden zu haben (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 [für den Erlass eines klageabweisenden Urteils vor Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung der gesetzten Replikfrist]).

Dem fristgerechten Eingang des Fristverlängerungsantrags bei Gericht steht es nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz irrtümlich mit einem unzutreffenden Aktenzeichen versehen ist. Allein entscheidend ist, dass er vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Gerichts gelangt ist (vgl. BVerfG, NJW 2013, 925; NJW 2023, 2173 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2).

Gründe:

I. Die Klägerin macht nach Erklärung des Rücktritts von einem Fahrzeugkaufvertrag Rückabwicklungsansprüche gegen die beklagte Verkäuferin geltend.

Das Landgericht hat ihrer Klage weitgehend stattgegeben.

Die Beklagte hat gegen das landgerichtliche Urteil Berufung eingelegt. Das Berufungsverfahren ist zunächst beim 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts geführt und sodann dem 9. Zivilsenat desselben Gerichts übertragen worden. Mit Beschluss vom 7. September 2022 hat der 9. Zivilsenat darauf hingewiesen, dass er die Zurückweisung der Berufung gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO beabsichtige, und der Beklagten eine Frist zur Stellungnahme bis zum 7. Oktober 2022 gesetzt. Mit einem am 6. Oktober 2022 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten mit der Begründung, aufgrund einer kurzen Auslandsreise des Sachbearbeiters habe die notwendige Erörterung mit der Beklagten noch nicht stattfinden können, um Verlängerung der Stellungnahmefrist um zwei Wochen gebeten. Der Schriftsatz enthält irrtümlich das Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats. Eine Entscheidung über den Fristverlängerungsantrag ist nicht ergangen.

Mit Beschluss vom 17. Oktober 2022 hat das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. In dem Beschluss heißt es, dass die Beklagte innerhalb der eingeräumten Frist keine Stellungnahme abgegeben habe.

Am 21. Oktober 2022 ist beim Berufungsgericht eine - mit dem zutreffenden Aktenzeichen versehene - Stellungnahme der Beklagten zum Hinweisbeschluss eingegangen. Das Berufungsgericht hat auf die zwischenzeitlich ergangene abschließende Entscheidung hingewiesen und eine nachfolgend erhobene Anhörungsrüge der Beklagten als unzulässig verworfen.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde erstrebt die Beklagte die Zulassung der Revision mit dem Ziel, ihr Berufungsbegehren weiterzuverfolgen.

II. Die zulässige Nichtzulassungsbeschwerde hat in der Sache Erfolg (§ 544 Abs. 9 ZPO), weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO). Das Berufungsgericht hat, wie die Nichtzulassungsbeschwerde zu Recht rügt, den Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) in entscheidungserheblicher Weise verletzt. Denn es hat die Berufung der Beklagten gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne zuvor über den rechtzeitig eingegangenen Antrag auf Verlängerung der Frist zur Stellungnahme zum Hinweisbeschluss gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO entschieden zu haben. Hierdurch hat es der Beklagten die Möglichkeit genommen, auf den weiteren Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung des Berufungsgerichts Einfluss zu nehmen.

1. Der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör steht in einem funktionalen Zusammenhang mit der Rechtsschutzgarantie und der Justizgewährungspflicht des Staates (vgl. BVerfGE 81, 123, 129). Danach gebietet Art. 103 Abs. 1 GG, dass sowohl die normative Ausgestaltung des Verfahrensrechts als auch das gerichtliche Verfahren im Einzelfall ein Maß an rechtlichem Gehör eröffnen, das sachangemessen ist, um dem in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Erfordernis eines wirkungsvollen Rechtsschutzes gerecht zu werden, und das den Beteiligten die Möglichkeit gibt, sich im Prozess mit tatsächlichen und rechtlichen Argumenten zu behaupten (vgl. BVerfGE 74, 228, 233 f.; BVerfG, Beschluss vom 25. August 2015 - 1 BvR 1528/14, juris Rn. 9; Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 - VIII ZR 137/21, NJW 2022, 3010 Rn. 20). Diese sollen vor einer Entscheidung, die ihre Rechte betrifft, zu Wort kommen, um Einfluss auf das Verfahren und sein Ergebnis nehmen zu können. Art. 103 Abs. 1 GG vermittelt allen an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten einen Anspruch darauf, sich zu dem in Rede stehenden Sachverhalt sowie zur Rechtslage zu äußern sowie Anträge zu stellen und Ausführungen zu machen. Dem entspricht die Pflicht des Gerichts, Ausführungen der Beteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfG, NJW 2017, 3218 Rn. 47 mwN).

Aus diesem Grund ist der Anspruch auf rechtliches Gehör nicht nur dann verletzt, wenn das Gericht sofort entscheidet, ohne eine angemessene Frist abzuwarten, innerhalb deren eine eventuell beabsichtigte Stellungnahme unter normalen Umständen eingehen kann (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 - VI ZR 287/17, NJW 2018, 3316 Rn. 8 mwN), oder wenn es eine den Beteiligten selbst gesetzte Frist zur Äußerung mit seiner Entscheidung nicht abwartet (BVerfG, Beschluss vom 7. Februar 2018 - 2 BvR 549/17, juris Rn. 2, 5, 8) oder wenn die gesetzte Frist objektiv nicht für eine sachlich fundierte Äußerung zum Sachverhalt und zur Rechtslage ausreicht (BGH, Beschluss vom 15. Mai 2018 - VI ZR 287/17, aaO mwN). Vielmehr liegt eine Verletzung des Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs grundsätzlich auch dann vor, wenn das Gericht einen fristgerecht eingegangenen Antrag auf Verlängerung der zu einer Stellungnahme gesetzten Frist übergeht und seine den Rechtszug abschließende Entscheidung erlässt, ohne über den Fristverlängerungsantrag entschieden zu haben (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 21, 23 [Urteil ohne Entscheidung über Antrag zur Verlängerung der gesetzten Frist zur Replik]).

2. Gemessen hieran ist dem Berufungsgericht eine entscheidungserhebliche Gehörsverletzung nach Art. 103 Abs. 1 GG anzulasten.

a) Es hat die Berufung der Beklagten durch Beschluss gemäß § 522 Abs. 1 Satz 1 ZPO zurückgewiesen, ohne über deren rechtzeitig gestellten Antrag auf Verlängerung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss entschieden zu haben.

aa) Gemäß § 522 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat das Berufungsgericht oder der Vorsitzende die Parteien auf die beabsichtigte Zurückweisung der Berufung und die Gründe hierfür hinzuweisen und dem Berufungsführer binnen einer zu bestimmenden Frist Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.

Die Möglichkeit, auf den Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts Stellung zu nehmen, dient nach allgemeiner Auffassung dem Zweck, dem Berufungsführer das rechtliche Gehör zu gewähren. Diesem soll Gelegenheit gegeben werden, sich zu der vom Berufungsgericht beabsichtigten Zurückweisung seines Rechtsmittels zu äußern (vgl. BGH, Beschlüsse vom 17. März 2016 - IX ZR 211/14, NJW-RR 2016, 699 Rn. 5 mwN; vom 29. September 2021 - VIII ZR 226/19, juris Rn. 31) und dem Berufungsgericht Gesichtspunkte zu unterbreiten, die seiner Auffassung nach eine Beschlusszurückweisung hindern (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 97 f.). Das schließt die Möglichkeit ein, vom Berufungsgericht für unzureichend erachtetes Vorbringen zu ändern und durch weiteren Sachvortrag zu ergänzen oder neue Angriffs- und Verteidigungsmittel - soweit berücksichtigungsfähig - geltend zu machen (vgl. Musielak/Voit/Ball, ZPO, 20. Aufl., § 522 Rn. 27). Dabei verbürgt die Gewährleistung des Art. 103 Abs. 1 GG dem Verfahrensbeteiligten auch das Recht, sich zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfG, NJW 2022, 3413 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 5. Juli 2022 - VIII ZR 137/21, NJW 2022, 3010 Rn. 20; jeweils mwN). Überdies wollte der Gesetzgeber dem Berufungsführer mit der Einräumung der Stellungnahmefrist zum Hinweisbeschluss des Berufungsgerichts die Möglichkeit geben, die Kosten des Berufungsverfahrens durch eine Rücknahme der Berufung möglichst gering zu halten (vgl. BT-Drucks. 14/4722, S. 98).

bb) Diese Möglichkeit der Einflussnahme auf das weitere Verfahren und den Inhalt der Entscheidung hat das Berufungsgericht der Beklagten genommen, indem es die Berufung ohne vorherige Verbescheidung des Fristverlängerungsantrags zurückgewiesen hat.

(1) Der von der Beklagten erstmals gestellte und mit einem erheblichen Grund (vgl. § 224 Abs. 2 ZPO) - einer aufgrund einer Auslandsreise des Sachbearbeiters noch nicht erfolgten Erörterung mit der Partei - begründete Fristverlängerungsantrag war, wie die Nichtzulassungsbeschwerde aufzeigt, bereits am 6. Oktober 2022 und damit innerhalb der noch laufenden Stellungnahmefrist beim Berufungsgericht eingegangen.

Dem fristgemäßen Eingang steht nicht entgegen, dass der betreffende Schriftsatz fälschlicherweise mit dem Aktenzeichen des vormals zuständigen 7. Zivilsenats - und nicht mit dem des nunmehr zuständigen 9. Zivilsenats - des Berufungsgerichts versehen war und deshalb der Geschäftsstelle des 9. Zivilsenats erst nach Ablauf der Stellungnahmefrist vorlag. Denn unter Berücksichtigung der weiteren Angaben in dem lediglich aus zwei Sätzen bestehenden Schriftsatz - insbesondere der namentlichen Bezeichnung der Parteien, der Nennung des betreffenden Hinweisbeschlusses mit Datum und Ende der gesetzten Frist sowie der Angabe des (vormaligen) Aktenzeichens - ergab sich eindeutig, dass sich der Antrag auf das von den Parteien nunmehr vor dem 9. Zivilsenat geführte Berufungsverfahren bezog.

Für den fristgerechten Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es grundsätzlich nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet oder der betreffenden Geschäftsstelle übergeben wird (vgl. BVerfG, NJW 2013, 925 unter II 2; NJW 2023, 2173 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2). Das Gesetz schreibt die Angabe eines bereits zugeordneten und mitgeteilten Aktenzeichens nicht vor. Diese soll lediglich die Weiterleitung innerhalb des Gerichts erleichtern und für eine rasche Bearbeitung sorgen (vgl. Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, aaO). Für den fristgerechten Eingang des Fristverlängerungsantrags der Beklagten war deshalb allein entscheidend, dass dieser vor Ablauf der gesetzten Frist in den Machtbereich des Berufungsgerichts gelangt war (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 26; Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, aaO).

(2) Dementsprechend hätte das Berufungsgericht vor seiner abschließenden Entscheidung über die Berufung der Beklagten über die rechtzeitig beantragte Verlängerung der Stellungnahmefrist befinden müssen. Verzögerungen bei der Weiterleitung des Fristverlängerungsantrags innerhalb des Gerichts können unter den hier gegebenen Umständen nicht zu Lasten der Beklagten gehen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob den Prozessbevollmächtigten der Beklagten im Hinblick auf die Angabe des unzutreffenden Aktenzeichens ein Verschulden trifft und ob er mit einer rechtzeitigen Gewährung der beantragten Fristverlängerung rechnen durfte. Denn es geht hier nicht um eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (vgl. BVerfG, NJW 2023, 2173 Rn. 27, 29; vgl. auch Senatsbeschluss vom 10. Juni 2003 - VIII ZB 126/02, NJW 2003, 3418 unter II 2).

b) Die darin liegende Gehörsverletzung ist entscheidungserheblich. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Berufungsgericht die beantragte Fristverlängerung gewährt und bei Berücksichtigung der im Schriftsatz der Beklagten vom 21. Oktober 2022 enthaltenen Ausführungen zur Sach- und Rechtslage seine im Hinweisbeschluss geäußerte Einschätzung geändert hätte.

3. Die weiteren von der Nichtzulassungsbeschwerde erhobenen Rügen hat der Senat geprüft, jedoch nicht für durchgreifend erachtet. Von einer Begründung wird insoweit abgesehen (§ 544 Abs. 6 Satz 2 ZPO).

III. Nach alledem ist der Zurückweisungsbeschluss des Berufungsgerichts aufzuheben und der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 544 Abs. 9 ZPO).

Der Senat weist - die Gewährung der beantragten Fristverlängerung vorausgesetzt - vorsorglich auf folgende, bereits im Erkenntnisverfahren zu berücksichtigende Gesichtspunkte hin: Wäre der Klägerin die Rückgewähr des Fahrzeugs in Natur nicht mehr möglich, dürfte ein Zurückbehaltungsrecht der Beklagten, das erstinstanzlich noch gemäß § 348 Satz 2, §§ 320, 322 BGB zur Zug-um-Zug-Verurteilung geführt hat, nicht mehr auf deren Anspruch auf Rückgewähr des Fahrzeugs gemäß § 346 Abs. 1 BGB gestützt werden können. Zudem dürfte sich die Beklagte dann wegen der Unmöglichkeit der Gegenleistung nicht mehr im Verzug mit der Annahme des Fahrzeugs befunden haben (vgl. BGH, Urteil vom 19. Dezember 1991 - IX ZR 96/91, BGHZ 117, 1, 6).